Attac und DGB hatten die Ex-Staatsanwältin Anne Brorhilker zu Gast:

„CUM-EX und andere Finanzverbrechen. Wie sich der Staat von der Finanzelite schröpfen lässt“

Die ehemalige Staatsanwältin Anne Brorhilker beleuchtete das Thema „CUM-EX, CUM-CUM und andere Finanzverbrechen“.
Die ehemalige Staatsanwältin Anne Brorhilker beleuchtete das Thema „CUM-EX, CUM-CUM und andere Finanzverbrechen“. Foto: Helmut Sommer für Nordstadtblogger.de

Im Rahmen der Sonderveranstaltung „10 Jahre – 100 Vorträge“ luden der Deutsche Gewerkschaftsbund Dortmund und Attac die ehemalige Staatsanwältin Anne Brorhilker ein. Das Thema ihres Vortrags im großen Saal der Auslandsgesellschaft lautete: „CUM-EX, CUM-CUM und andere Finanzverbrechen. Wie sich der Staat von der Finanzelite schröpfen lässt“.

Es geht um Illegale Aktiengeschäfte, bei denen der Staat betrogen wird

Ein brisantes Thema, das so viele Bürger:innen anzog, dass längst nicht alle in den Saal passten. Trotz kleiner technischer Probleme mit dem Beamer begann Anne Brorhilker ihren Vortrag. Sie erklärte in anschaulichen Bildern, was CUM-EX ist: Illegale Aktiengeschäfte, bei denen der Staat betrogen wird, indem er mehrmals eine nur einmal bezahlte Steuer erstattet. Ein Geschäft, bei dem mehrere Banken beteiligt sein müssen, die sich teilweise im Ausland befinden.

Mit ihrer lebendigen Art nahm sie die Besucher:innen mit in ihren Alltag als Staatsanwältin, die erst einmal lernen musste, wie die Finanzwelt tickt. Sie erklärte, dass die beteiligten Banker das Verschieben der Cum-Aktien (mit Dividendenanspruch) und Ex-Aktien (ohne Dividendenanspruch) als „Dividenden Holidays“ bezeichnen.

Geschickt stellte sie die Dimensionen dar: Bereits in ihrem ersten Fall wurde das Startkapital für einen Cum-Ex-Deal von 250 Millionen Euro als zu klein eingestuft und mit Faktor 40 vergrößert. Der entstandene Steuerschaden betrug 460 Millionen Euro – Größenordnungen, die auch für die beteiligten Banken kein Alltagsgeschäft sind.

Ungeahnte Verfahrens-Dimensionen: Es gibt 1700 Beschuldigte

Es folgte ein Einblick in ihren Alltag: Ihr erster Cum-Ex-Fall, 14 Länder, in denen ermittelt werden musste. Der Steuerschaden entstand nur in Deutschland, was die Rechtshilfeersuchen nicht einfacher machte. Lebendige Bilder entstanden, als sie beschrieb, dass sie nur einen einfachen „Büromöhrchendrucker“ hatte, den sie beim Ausdrucken der Rechtshilfeersuchen schrottete. Ganz normale Menschen ermitteln, sie fahren 14 Tage mit dem Auto durch Europa – auch Ermittler können Flugangst haben.

Bild: Depositphotos

Erst als Kronzeugen aussagten, nahm der Prozess Fahrt auf. 2019 gab es die erste Klage, 2020 das erste Urteil, das 2021 und 2022 durch die Instanzen bestätigt wurde. Endlich war gerichtlich geklärt, dass es sich um Straftaten handelte, die Täter hatten sich auf Gesetzeslücken berufen. Hohe Freiheitsstrafen wurden verhängt.

Aus dem Büroalltag zurück in die Dimensionen: Es gibt 1700 Beschuldigte. Die Prozesse dauern mit neun Monaten lange – auch weil man alles mündlich wiederholen muss. In anderen Ländern können auch Schriftstücke eingeführt werden.

Trotz einer schriftlichen Weisung des Bundesministeriums für Finanzen, dass das hinterzogene Geld zurückgeholt werden muss, sind von vielen Milliarden bisher nur etwa 200 Millionen wieder eingetrieben.

 Ungleichgewicht der Akteure: Kleine Behörden gegen die riesige Finanzlobby

Anne Brorhilker wird ernst. Zeit, aktiv zu werden. Sie verdeutlichte das Ungleichgewicht der Akteure: Kleine Behörden gegen die riesige Finanzlobby – der größte Lobbyakteur in Deutschland, größer als die Automobil- oder die Pharmalobby. Demgegenüber herrscht Personalnot in den Amtsstuben und eine Stellenstruktur, die häufige Fluktuation honoriert, die aber in Fachdienststellen wie Finanzermittlungen keinen Sinn macht.

Traurig und fast komisch, als sie über die erlebten Probleme durch die föderale Struktur in Deutschland berichtete. Jedes Bundesland hat eine andere Technik, andere Software und andere Kommunikationswege. Europäische Standards sind hier Fehlanzeige. Es gelingt nicht, mit allen Ermittlungsteams gleichzeitig Videokonferenzen durchzuführen. Sie bekam den Rat, die Daten auf einem Stick mit der Post zu versenden.

Steuerhinterziehung ist kein Verbrechenstatbestand mehr, Sozialhilfebetrug schon

Klar ist, dass die andere Seite besser aufgestellt ist. Deutlich formuliert in dem Satz: „Konfliktverteidigung trifft auf ein strukturell geschwächtes System“. Da liegt auch der erste Lösungsansatz: Die Behörden stärken – das bezieht sich auf deren strukturelle Probleme. Sie erzählte, dass teilweise nur ein Steuerprüfer eingesetzt wird, um eine Großbank zu prüfen.

Die Veranstaltung war sehr gut besucht. Foto: Helmut Sommer für Nordstadtblogger.de

Statistiken steuern in Behörden den Personaleinsatz – Großverfahren werden aber nicht erfasst. Hier kann man zentrale Zuständigkeiten schaffen. Wichtig ist ihr der Gedanke, die Finanzlobby zurückzudrängen. Deutlich zu machen, dass sie durch Geld, Einladungen, Aufträge für Gutachten oder Aufsätze Nähe erzeugen. Hier gilt es, Transparenz zu schaffen.

Seit einigen Jahren ist Steuerhinterziehung kein Verbrechenstatbestand mehr. Sozialhilfebetrug schon, mit der Folge, dass er härter bestraft wird als die Steuerhinterziehung – eine rechtliche Schieflage. Interessant ist ihr Gedanke, auch auf ethischer Ebene tätig zu werden.

Die ehemalige Staatsanwältin engagiert sich jetzt im Verein „Finanzwende“

Es gibt kaum kriminologische Untersuchungen zu der Frage, warum schon sehr Reiche kriminell werden. Aus den Verfahren kennt man das fehlende Unrechtsbewusstsein. Sie verweist auf Untersuchungen, dass die Investition in moralische Standards die Erosion des Werteverfalls verhindert und von Straftaten abhält. Oder deutlicher: „Es ist asozial, wenn man in die (Staats-) Kasse greift“.

Anne Brorhilker ist keine Staatsanwältin mehr. Was kann die Zivilgesellschaft tun, fragt sie und berichtet von ihrem Weg zu Finanzwende. de, einer Nichtregierungsorganisation (NGO). Nach Israel Butler, einem Anwalt für Menschenrechte und Leiter von Civil Liberties Union for Europe, mögen antidemokratische Regierungen NGOs nicht.

Diese helfen der Öffentlichkeit, indem sie darauf achten, ob Politiker:innen öffentliches Geld missbrauchen oder das Gesetz brechen. Anne Brorhilker will mit ihrer Arbeit dort der Zivilgesellschaft eine Stimme geben. Und bekommt für ihren Vortrag und ihr Engagement tosenden Applaus.


Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!

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