Der Tod löst bei vielen Menschen ein unbehagliches Gefühl aus. Besonders im Christentum besänftigt der Glaube an ein Leben im Jenseits die Angst davor. Zurück bleiben Angehörige, die den Verstorbenen in Würde gedenken. Doch was ist, wenn keine Angehörigen mehr auffindbar oder selbst nicht mehr unter den Lebenden sind? Einmal pro Quartal hält die Gemeinde einen Gottesdienst für „Unbedachte“ ab – für jene, deren Bestattung das Ordnungsamt veranlasst und für die keine Trauerfeier stattgefunden hat.
Zur kalten Jahreszeit findet erneut ein besonderer Gottesdienst statt
Die kalte Jahreszeit macht sich bemerkbar. Es ist der November, offiziell noch Herbst. Die dicken Winterjacken auf den Kirchenbänken der evangelischen Stadtkirche St. Reinoldi in der Dortmunder Innenstadt erwecken jedoch einen gegenteiligen Eindruck.
Die Besetzung der alten, braunen Bänke, die bei jeder kleinsten Bewegung einen Ton von sich geben, ist dabei recht übersichtlich. Ein Großteil der Gesichter ist von Falten gezeichnet, die von weißen Haaren umrahmt werden. Entweder sind die Anwesenden allein oder in Begleitung.
Der Anlass der Zusammenkunft ist der Gottesdienst für „Unbedachte“ – verstorbene Personen ohne Angehörige. Schnell wird deutlich, dass einige der Anwesenden die Verstorbenen flüchtig kannten.
Fragen wie „Kannten sie die Frau?“ kann man aus der rechten Hälfte der Bänke vernehmen. Andere nehmen wiederum nur aus Mitgefühl am Gottesdienst teil. Während das Läuten der Kirchenglocken den Raum überwiegend füllt, ist in den hinteren Reihen ein leises Gemurmel wahrnehmbar.
Blechene Figuren, die links und rechts vom Altar positioniert sind, ziehen die Blicke auf sich, während Jesus Christus in hölzerner Optik gekreuzigt darüber von der Decke hängt. Die hohe Fensterfront hinter dem Altar, die in Blautönen gehalten ist, taucht in den Dämmerungsstunden in eine dunkle Farbe.
Ein düsterer Eindruck, obwohl die Kirche für viele Personen einen heiligen Ort darstellt. An den Fenstern auf der linken Seite hingegen schimmern vage die Lichter der ersten Weihnachtsstände durch, begleitet von den dumpfen Stimmen der Besucher:innen.
Ein Ausdruck des Respekts vor den unbekannten Personen
Je mehr die Geräuschkulisse der Kirchenglocken abnimmt, desto mehr Ruhe kehrt nun auch in der Kirche ein. Mit dem Eintritt eines Orgelspiels betreten Pfarrer Ansgar Schocke und Pfarrer Michael Küstermann den Raum, ehe sie sich in die vorderste Reihe setzen, gemeinsam mit Bürgermeister Norbert Schilff.
Die Blicke sind dabei überwiegend auf den Boden gesenkt, der einst hellbraun war und nun von der Abnutzung dunkle Spuren aufweist. Der steinige Boden im Gang und in der restlichen Kirche zeigt hingegen weniger Gebrauchsspuren. Abgesehen von der kühlen Luft in der steinigen Räumlichkeit macht sich mit der indirekten Konfrontation des Todes eine angespannte Atmosphäre bemerkbar.
Mit dem Ende des Orgel-Solos betritt Pfarrer Küstermann in seinem schwarzen Talar, das bis zum Boden reicht, das Mikrofon auf dem Altar, was die Blicke wieder hebt. Für jede Person, die zwischen dem 13. Juli und dem 24. Oktober verstorben und bestattet wurde, wird eine Kerze angezündet, während der Pfarrer ins Mikrofon spricht.
„Sie sind in diesem Gottesdienst, in unserer Erinnerung, gegenwärtig.“ In Dortmund gibt es pro Jahr etwa 400 verstorbene Personen, die ohne auffindbare Angehörige von uns gehen. Die Stadt Dortmund unterstützt das Gedenken an diese Menschen und schaltet eine Traueranzeige mit den Namen aller Verstorbenen.
„Unsere Gottesdienste für Unbedachte sind auch ein Zeichen dafür, dass es uns nicht egal ist, ob ein Mensch, der in unserer Stadt gelebt hat, gestorben ist. Er war ein Bürger, eine Bürgerin in dieser Stadt. (…) Wir gedenken nun diesen Menschen in Trauer und mit Respekt. Denn ihr Leben war kostbar, so wie es unser Leben ist, das Leben aller Menschen“, so Küstermann.
Der Tod schreckt nicht vor jungen Menschen ab
Zögerlich beginnen die Besucher:innen nach Küstermanns Ansprache, das erste Lied „Ich stehe vor dir mit leeren Händen“ zu singen. Wenn der Blick nicht auf dem Handzettel gerichtet ist, der bereits am Eingang ausgehändigt wurde und den Liedtext abbildet, schweift er neugierig durch die Kirche.
Ebenso, als Pfarrer Ansgar Schocke nach vorne tritt und die trinitarische Formel aufsagt, die durch die Musikboxen, befestigt an den mittigen Säulen der Kirche, ertönt. 98 Personen, deren Namen von Küstermann, Schocke und Schilff im Wechsel verlesen werden.
Die jüngste verlesene Person ist 37 Jahre alt, die älteste 100. Ein Kind, das nach der Geburt verstorben ist und nicht von den Eltern beigesetzt werden konnte, wird namentlich nicht genannt. Zu jeder Person wird dabei eine Kerze an der Osterkerze, die neben dem Altar platziert ist, angezündet.
Die Symbole „Alpha“ und „Omega“ verzieren dabei die Kerze. Sie sind der Anfang und das Ende des griechischen Alphabets und repräsentieren das Licht Gottes, das von Anfang an und bis über das Ende hinaus leuchtet.
Der nächste Gottesdienst für „Unbedachte“ im Frühjahr
Es kehrt Stille in der Kirche ein. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Die vorgelesenen Namen sind zudem in einem Buch in der Kirche vermerkt. Darin können die Besucher:innen auch die Namen nahestehender Personen, die verstorben sind, eintragen. Zum Abschluss wird erneut gemeinsam gesungen – diesmal jedoch weniger zögerlich.
Die Emotionen der Besucher:innen kommen nun durch. Ein leises Schluchzen ist wahrnehmbar, wahrscheinlich von der Besucherin, die sich mit einem Taschentuch die Tränen abwischt, während in der hinteren Reihe das Öffnen einer Taschentuchverpackung hörbar ist.
Der nächste Gottesdienst für „Unbedachte“ findet im Februar statt, kündigt Küstermann an. Wann genau, ist bislang nicht bekannt, herzlich eingeladen ist jedoch jede Person.
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Reaktionen
Thomas Oppermann
Ich glaube die Frage sollte erlaubt sein, ob die Verstorbenen eigentlich alle Mitglied der Kirche waren, dem christlichen Glauben angehörten? Leider gibt es keine Angehörigen, die sich für die Belange der Verstorbenen einsetzen könnten. Um so leichter können hier Menschen, vereinnahmt werden. Vor dem Hintergrund, dass sowohl die evangelische Kirche als auch die Katholische Kirche mehrfach gebeten wurden, eine Gedenkveranstaltung auszurichten, die der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt entspricht, ist diese Vereinnahmung mehr als übergriffig. Die Würde des Menschen gilt auch über seinen Tod hinaus, dazugehört auch zweifelsfrei die religiöse und weltanschauliche Prägung von Menschen wahrzunehmen und ernstzunehmen.