Buchvorstellung im Rahmen des „0+1-Festival“ im Literaturhaus

„Erinnern heißt kämpfen“ thematisiert die erschütternden Folgen rechter Gewalt

Ali Şirin saß mit mit Gamze Kubaşık und Cihat Genç auf dem Podium.
Ali Şirin saß mit mit Gamze Kubaşık und Cihat Genç auf dem Podium (von links). Foto: Mickaelle Ayossa

Um die erschütternden Tatsachen und Folgen rechter Gewalt ging es bei einer Veranstaltung, die im Rahmen des „0+1-Festival für Diversität und Komplexität“ im Literaturhaus stattfand. Ali Şirin, Sozialwissenschaftler im Zentrum für Erinnerungskultur in Duisburg, hatte für diesen Abend die Moderation übernommen. Für das Gespräch mit ihm waren Gamze Kubaşık, deren Vater Mehmet Kubaşık vom NSU ermordet wurde, und Cihat Genç, der durch einen rassistischen Brandanschlag zwei Schwestern verlor, auf dem Podium.

Der Brandanschlag in Solingen

Fünf Frauen und Mädchen mit türkischer Migrationsgeschichte wurden am 29. Mai 1993 bei einem rassistischen Brandanschlag  auf das Haus der Familie Genç in Solingen getötet. 14 weitere Familienmitglieder erlitten zum Teil lebensgefährliche Verletzungen.

Foto: Mickaelle Ayossa

Hülya und Saime Genç, die Schwestern von Cihat Genç, waren erst neun und vier Jahre alt, als sie in der Brandnacht ihr Leben verloren. Wie das für ihn nachwirkt, will Ali Şirin von Cihat Genç wissen. Ob er trotz allem noch an das Gute glauben kann?

Genç antwortet darauf zunächst, dass sich Angehörige der Opfer durch die Behörden immer noch nicht wirklich ernst genommen fühlen, fügt aber hinzu: „Wenn wir nichts tun, haben wir bereits verloren.“ In diesem Sinne will er ein Umdenken anregen. Gedenkorte, so seine Überzeugung, dienen der notwendigen Erinnerungskultur und schaffen Bewusstsein.

Der NSU-Mord in Dortmund

Mehmet Kubaşık wurde am 4.April 2006 in seinem Kiosk in der Dortmunder Nordstadt von Mitgliedern der rechtsextremen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) erschossen. Er war das achte Todesopfer der NSU-Mordserie.

Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße ermordet. Archivfoto: Alex Völkel
Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße ermordet. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

In den Jahren bis zur Selbstenttarnung des NSU im November 2011 verdächtigte die Polizei die Familie  Kubaşık mutmaßlich wegen krimineller Machenschaften und sogar einer Beteiligung am Mord.

„Es war die schlimmste Zeit meines Lebens“, erinnert Gamze Kubaşık sich. „Wir fühlten uns von der Gesellschaft im Stich gelassen. Nach dem Mord an meinem Vater wurde durch die Ermittlungen auch noch seine Ehre kaputt gemacht. Es war schwer, auf die Straße zu gehen. Menschen redeten schlecht über uns, manche wechselten die Straßenseite, wenn sie uns sahen.“

Gamze Kubaşık engagiert sich seither unablässig für eine volle Aufklärung. „Jeder hat das Recht zu erfahren, was mit uns geschehen ist“, sagt sie, „und deswegen mache ich keinen Schlussstrich.“ Auch nach dem NSU-Prozess in München sind noch viele Fragen offen, für die sich die Hinterbliebenen Antworten wünschen. 

Aufklärung und konsequentes Handeln

Ali Şirin erinnerte an das Grauen des NSU und wies darauf hin, dass durch den Staat verdunkelt wird. Er fordert Aufklärung und konsequentes Handeln: „Die Hinterbliebenen werden nur allzu oft alleingelassen. Sie bekommen nicht die Hilfe, die sie eigentlich brauchen. Man erkennt daran, dass Antisemitismus und Rassismus in unserer Gesellschaft oft nicht genügend ernst genommen und verharmlost werden.“

Auch in Dortmund rief ein breites Bündnis zur Protestaktion „Kein Schlussstrich“ auf. Foto: Leopold Achilles
Auch in Dortmund rief ein breites Bündnis zur Protestaktion „Kein Schlussstrich“ auf – die fordern eine tiefergehende Aufarbeitung des NSU-Skandals. Leopold Achilles | Nordstadtblogger

Şirin wünscht sich, dass die Menschen bei jeder sich bietenden Gelegenheit rechtem Gedankengut entgegentreten. Er berichtet davon, wie sich Überlebende und Angehörige der Opfer organisieren, um sich gemeinsam mehr Gehör zu verschaffen. So werden Veranstaltungen organisiert, die eine breite Öffentlichkeit erreichen.

In Dortmund findet beispielsweise immer am 5. Mai, dem Geburtstag von Mehmet Kubaşık, ein Kinderfest statt, und vor dem einstigen Kiosk in der Mallinckrodtstraße wurde eine Gedenktafel angebracht, die erinnert und zu wachsamer Solidarität mahnt.

Die Netzwerke der Überlebenden und Angehörigen der Opfer rechter Gewalt sind deutschlandweit gespannt. „Sie gründeten sich in Reaktion auf passive staatliche Behörden bzw. aktive Vertuschungsversuche und schaffen Raum für Selbstermächtigung“, heißt es in der Beschreibung des Buches »Erinnern heißt kämpfen«, das durch Ali Şirin herausgegeben wurde. Es gewährt einen Überblick zur rechten Gewalt in Deutschland, der betroffen macht. 

Die Räume im Literaturhaus waren bis auf den letzten Platz gefüllt, weshalb die Veranstaltung zugleich gestreamt wurde. Das „0+1-Festival für Diversität und Komplexität“, das vom VKII Ruhrbezirk e. V., Train of Hope e. V. und dem Bildungswerk Vielfalt sowie dem Bündnis Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich Dortmund gemeinsam getragen wird, findet in diesem Jahr bereits zum vierten Mal statt.

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