Seit dem 7. Oktober 2023 steigen die Zahlen antisemitischer Vorfälle rasant an. Angriffe auf Personen oder auf (vermeintlich) jüdische Einrichtungen, Schändungen von NS-Gedenkmälern und antisemitische Parolen auf Demonstrationen – all dies führt zu einer Verunsicherung von in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Nordrhein-Westfalen (RIAS NRW) nimmt Meldungen über antisemitische Vorfälle auf und unterstützt Betroffene von Antisemitismus. Pressesprecher Simon Brüggemann gibt im Gespräch Einblicke in die aktuelle Situation.
Herr Brüggemann, seit dem 7. Oktober ist oft von einem drastischen Anstieg antisemitischer Vorfälle die Rede. Wie sind denn die Zahlen für das Bundesland Nordrhein-Westfalen und auch ganz konkret für Dortmund?
Für das Jahr 2023 haben wir als Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Nordrhein-Westfalen (RIAS NRW) 664 antisemitische Vorfälle in NRW dokumentiert, davon 119 im Regierungsbezirk Arnsberg. Im Jahr 2022 waren es NRW-weit noch 264.
57 Vorfälle ereigneten sich in Dortmund. Im Jahr zuvor waren es noch 24 Vorfälle, das ist eine Steigerung von 137 Prozent. Von durchschnittlich zwei Vorfällen pro Monat für die Stadt Dortmund im Jahr 2022 zu einem gemeldeten und dokumentierten Vorfall pro Woche im Jahr 2023. Dabei ereigneten sich 46 von 57 Vorfällen nach dem 7.10.2023 und 44 Vorfälle hatten einen direkten Bezug zum 7. Oktober, also rund 77 Prozent aller Vorfälle.
Das gilt nicht nur für Dortmund, sondern ist in ganz NRW ähnlich: 65 Prozent aller gemeldeten Vorfälle ereigneten sich nach dem 7. Oktober, 93 Prozent davon hatten einen direkten Bezug zum Massaker der Hamas. Dabei ist weiterhin von einem hohen Dunkelfeld auszugehen, also antisemitischen Vorfällen, die uns nicht bekannt werden.
Der 7. Oktober führte zu einem deutlichen Anstieg der antisemitischen Vorfälle in Dortmund und der Terrorangriff der Hamas auf Israel motiviert antisemitische Täter:innen und begünstigt antisemitisches Handeln. RIAS charakterisiert das als Gelegenheitsstruktur. Unter dem Begriff werden bestimmte Rahmenbedingungen verstanden, die antisemitisches Handeln ermöglichen oder wahrscheinlicher machen. Das können zum Beispiel Medienereignisse oder gesellschaftliche Debatten sein, aber auch gezielte Kampagnen politischer Akteur:innen und auch immer wieder aktuelle Ereignisse im Kontext des Nahostkonflikt.
Welche Form des Antisemitismus‘ tritt denn derzeit am häufigsten auf?
Der israelbezogene Antisemitismus ist neben dem antisemitischen Othering und dem Post-Schoa-Antisemitismus die am häufigsten dokumentierte Erscheinungsform des Antisemitismus, wobei ein Vorfall mehrere Erscheinungsformen des Antisemitismus aufweisen kann.
Können Sie die Arten vielleicht noch ein wenig ausführen?
Beim antisemitischen Othering werden Jüdinnen und Juden als fremd oder nicht zugehörig beschrieben. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn nicht-jüdische Institutionen oder Personen als „Jude“ beschimpft werden oder deutsche Jüdinnen und Juden für die Politik Israels verantwortlich gemacht werden.
Der Post-Schoa-Antisemitismus bezieht sich unter anderem auf die Ermordung der Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus, etwa wenn die Erinnerung daran abgelehnt oder die Schoa verharmlost oder geleugnet wird.
Der israelbezogene Antisemitismus richtet sich gegen den jüdischen Staat Israel, etwa indem diesem das Existenzrecht abgesprochen wird oder antisemitische Stereotype, die sich aus Motiven des Antijudaismus bis hin zum modernen Antisemitismus speisen, auf Israel übertragen werden oder Israel dämonisiert wird.
Wenn also jemand zu einer Jüdin in Deutschland sagt: „Was macht ihr eigentlich in Israel? Die Behandlung der Palästinenser:innen ist ja schlimmer als im Holocaust!“, so betrifft dies alle drei genannten Erscheinungsformen.
Wo finden die Vorfälle statt?
Die häufigsten Tatorte sind die Straße, das Wohnumfeld und das Internet. Wichtig ist hier zu sagen, dass antisemitische Äußerungen im Internet nur von RIAS dokumentiert werden, wenn sie konkret an eine Person oder Institution adressiert sind. Wir erfassen also nur einen Bruchteil aller antisemitischen Äußerungen im Internet.
Unter den 57 Vorfällen in Dortmund sind 34 Vorfälle mit Betroffenen. Von diesen 34 Vorfällen waren in 23 Fällen Individuen betroffen und in 11 Fällen Institutionen. Jeweils 13 Individuen und 5 Institutionen waren jüdisch.
Trotz des sehr geringen Bevölkerungsanteils von Jüdinnen und Juden stellen diese die Mehrheit bzw. beinahe die Hälfte der Betroffenen antisemitischer Vorfälle in Dortmund. Das unterstreicht, dass sich Antisemitismus in NRW in erster Linie gegen Jüdinnen und Juden richtet und sich häufig in alltäglichen Lebensbereichen manifestiert, so dass es schwierig ist, sich ihm zu entziehen und er für die Betroffenen oft besonders bedrohlich ist.
Hat Sie ein Vorfall besonders schockiert? Wenn ja, welcher?
Die Zahl und Intensität antisemitischer Vorfälle ist in den letzten Monaten so hoch, dass ich kaum einen einzelnen Vorfall hervorheben möchte. Bezogen auf den 7. Oktober war sicherlich die Verhinderung der Vorführung des Films „Screams before Silence“ im Dortmunder U durch anti-israelische Aktivist:innen bezeichnend, da hier die Opfer des Hamas-Massakers, die im Film in zahlreichen Interviews zu Wort kommen und die Gräueltaten schildern, bewusst zum Schweigen gebracht und als israelische Propaganda delegitimiert werden sollten.
Ansonsten ist es vor allem die Mischung aus antisemitischen Schmierereien und Aufklebern im öffentlichen Raum, nicht selten bis hin zum offen formulierten Vernichtungswunsch, oder, gerade in Dortmund, die Verwendung einer antisemitischen Bildsprache in der Art des nationalsozialistischen Propagandablattes „Der Stürmer“ bei großflächigen Graffiti, über persönliche Anfeindungen und Bedrohungen bis hin zur antisemitisch motivierten Schändung von NS-Gedenkstätten, die schockiert, weil sie zusammen das besagte antisemitische Grundrauschen ergeben, das zumindest für die Betroffenen unüberhörbar ist.
Wie ordnen Sie die „pro-palästinensischen“ Demonstrationen in NRW ein? Kommt es dort auch zu Vorfällen?
Die Mobilisierung zu israelfeindlichen Versammlungen, bei denen es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen kommt, hält vor allem in den Ballungsgebieten NRWs weiterhin an. Auf zahlreichen Versammlungen wurde das Existenzrecht Israels in Redebeiträgen oder Sprechchören sowie Plakaten bestritten. Gegenproteste werden regelmäßig antisemitisch beschimpft, bedroht und angegriffen. Die meisten Vorfälle sind somit auch dem israelbezogenen Antisemitismus zuzuordnen, der sich aber oft mit dem Post-Schoa-Antisemitismus verbindet.
Dies passiert auf verschiedenen Wegen, zum Beispiel wenn das militärische Vorgehen Israels ganz konkret mit dem Holocaust gleichgesetzt und dieser damit relativiert wird, äußert sich aber auch häufig in direkten Angriffen auf die Erinnerung, beispielsweise in der Parole „Free Palestine from german guilt.“
Zudem dienen antisemitische Weltbilder als Brückenkopf zwischen verschiedenen politischen Spektren, die auf solchen Demonstrationen gemeinsam auftreten.
Da demonstrieren dann schon mal links-autoritäre Gruppen gemeinsam mit islamisch-konservativen bis islamistischen Milieus. Grundsätzlich tragen die meisten Demonstrationen zu einem antisemitischen Grundrauschen im öffentlichen Raum bei.
Welche Auswirkungen haben der 7. Oktober und die Zunahme antisemitischer Vorfälle für Jüdinnen und Juden?
Der 7. Oktober 2023 markiert eine Zäsur für Jüdinnen und Juden weltweit, in Israel, in Deutschland und damit auch in NRW und Dortmund – eine Zäsur für den Schutz und die Sicherheit jüdischen Lebens.
Die deutliche Zunahme antisemitischer Vorfälle macht sich für die jüdische Gemeinde in Dortmund und NRW ganz konkret in der Zunahme direkter Anfeindungen gegen Jüdinnen und Juden bemerkbar. Antisemit:innen unterscheiden nicht zwischen ihren Opfern, für sie repräsentieren auch in Deutschland lebende Jüdinnen:Juden häufig den Staat Israel.
Daher hat sich das Sicherheitsgefühl für Jüdinnen und Juden seit dem 7. Oktober massiv verschlechtert. Antisemitismus ist für sie ein potenziell alltagsprägendes Phänomen, das ein permanentes Abwägen zwischen der eigenen Sichtbarkeit und dem Sicherheitsrisiko, beleidigt, bedroht oder diskriminiert zu werden, evoziert.
Was machen Jüdinnen und Juden, um sich vor Übergriffen zu schützen?
Viele Jüdinnen und Juden reagieren darauf, indem sie ihr Judentum in der Öffentlichkeit verschweigen, jüdische Symbole verstecken oder jüdische Einrichtungen meiden, also beispielsweise Synagogen, jüdische Gemeinde- oder Jugendzentren.
Jüdisches Leben war in Deutschland schon immer bedroht, aber seit dem 7.10. verschwindet jüdisches Leben aus Angst vor Anfeindungen, Übergriffen und Diskriminierungen rapide aus der Öffentlichkeit und führt bei den Betroffenen zu erheblichen emotionalen Belastungen.
Vor diesem Hintergrund wünschen sich viele Jüdinnen und Juden eine entschiedenere Verurteilung und Bekämpfung des Antisemitismus durch Politik, Zivilgesellschaft und Behörden. Bisher fühlen sich die meisten nämlich von der Mehrheitsgesellschaft alleingelassen im Kampf gegen Antisemitismus und empfinden diese Mehrheitsgesellschaft als empathielos.
Sie können für das laufende Jahr 2024 zwar noch keine konkreten Zahlen nennen. Zeichnet sich denn schon eine Tendenz ab?
Im Jahr 2024 setzen sich bisher die Entwicklungen fort, die seit dem 7. Oktober 2023 begonnen beziehungsweise sich verschärft haben. Die Vorfallszahlen bleiben auf hohem Niveau und werden die uns bekannten 57 Vorfälle für Dortmund im Jahr 2023 noch einmal übertreffen.
Die deutlichen Anstiege nach dem 7. Oktober waren keine kurzfristigen Spitzen, sondern der Beginn eines offener und drastischer auftretenden Antisemitismus, der sich im gesamten Bundesland auf einem bisher nicht erreichten hohen Niveau verfestigte. Judenhass ist in allen Lebensbereichen, vom Arbeitsplatz über das Wohnumfeld bis hin zu Schulen und Universitäten, sichtbarer als zuvor.
Mehr auf dazu auf Nordstadtblogger:
SERIE „Ein Jahr nach dem 7. Oktober“: Der Überfall der terroristischen Hamas auf den Staat Israel
Serie „Ein Jahr nach dem 7. Oktober“: Mehr als 400 Menschen bei Solidaritätskundgebung in der City
Über jahrhundertealte Ressentiments und die endlose Geschichte des Judenhasses
Sebastian Voigt über den Überfall der Hamas auf Israel und die Landtagswahlen im Osten
Serie „Ein Jahr nach dem 7. Oktober“: Malika Mansouri über antimuslimischen Rassismus
Über den Nahostkonflikt und ihre Auswirkungen auf die palästinensische Gemeinde in Dortmund
Dokumentarfilm „Screams before silence“ sollte die sexualisierte Gewalt der Hamas thematisieren
Der 7. Oktober als Zäsur: Zahl der antisemitischen Vorfälle 2023 in NRW um 152 Prozent gestiegen
„Die größte Bedrohung für demokratische Werte ist Gleichgültigkeit gegenüber Hass und Terror“
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Statement des Bundesverbands RIAS anlässlich des interfraktionellen Antrags des Deutschen Bundestages zum Schutz jüdischen Lebens (PM)
Anlässlich der Debatte zum interfraktionellen Antrag von SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland erklärt Benjamin Steinitz, Geschäftsführer des Bundesverbands RIAS:
„Ich begrüße den wichtigen und längst überfälligen interfraktionellen Antrag des Deutschen Bundestages in weiten Teilen. Er ist ein Zeichen der politischen Geschlossenheit gegen Antisemitismus. Der Antrag ist angesichts des alarmierenden Anstiegs antisemitischer Vorfälle seit dem 7. Oktober 2023 dringend notwendig. Wie auch Vertreter_innen jüdischer Organisationen stelle ich mir die Frage, was nun daraus folgt.
Die Aufforderung des Bundestages an die Bundesregierung sowie an Länder und Kommunen, die IHRA-Antisemitismusdefinition maßgeblich heranzuziehen befürworte ich. Diese ist ein praxisbewährtes Instrument, um antisemitische Narrative und Vorfälle zu erkennen und einzuordnen. Sie ist geeignet, um unter anderem israelbezogenem Antisemitismus im Sinne der aktuellen Forschung sowie unter Berücksichtigung des Kontexts zu erkennen. Auch der Bundesverband RIAS und die RIAS-Meldestellen dokumentieren auf ihrer Grundlage antisemitische Vorfälle. Die IHRA-Antisemitismusdefinition ist zudem unverzichtbar für die Sensibilisierung von Strafverfolgungsbehörden und Zivilgesellschaft im Umgang mit Antisemitismus. Für politische Entscheidungsträger_innen innerhalb der EU ist sie die maßgebliche Orientierung zur Entwicklung von Strategien zur Bekämpfung von Antisemitismus.
Die aufgeheizte Diskussion um die IHRA-Antisemitismusdefinition und deren starke Ablehnung sind daher irritierend. An ihrer Entwicklung waren Organisationen der jüdischen Zivilgesellschaft sowie demokratisch legitimierte Regierungsvertreter_innen beteiligt. Zahlreiche Staaten haben sie angenommen. Sie ist ein Kompromiss, der aus einem jahrelangen, in Teilen öffentlich und so breit wie kontrovers diskutierten Erarbeitungsprozess entstanden ist.
Die Debatte um die IHRA-Antisemitismusdefinition findet zunehmend losgelöst von ihren eigentlichen Inhalten statt. Wer die Bundestagsresolution zum Schutz jüdischen Lebens aufgrund dieser Debatte ablehnt, muss sich fragen lassen: Welchen Stellenwert haben die Positionen organisierter jüdischer Communities im Kampf gegen Antisemitismus für Sie? Die Debatte droht, die Isolation zu vertiefen, die Jüdinnen_Juden seit dem 7. Oktober zunehmend erleben. In der Konsequenz drängt sich das beklemmende Gefühl auf, dass Jüdinnen_Juden bei der Bekämpfung von Antisemitismus allein dastehen.“
Till Strucksberg
Nicht verwunderlich
ist es, dass sich Jüdinnen und Juden in ihrer Gesamtheit zunehmend isoliert fühlen. Fälschlicherweise werden sie mit den Verbrechen der israelischen Regierung und des Militärs in Gaza, in den widerrechtlich besetzten Gebieten und in Jordanien identifiziert. Leider helfen da auch die Positionen der „organisierten jüdischen Communities“ nicht, weil sie genau dieser Identifizierung Vorschub leisten. Gegen diese Menschenrechtsverbrechen, gegen den Beschluss des Bundestages und die zugrunde liegende IHRA-Antisemitismusdefinition gibt es nämlich erhebliche Vorbehalte – auch von jüdischer Seite! Wenn diese kritischen jüdischen Stimmen von offizieller Seite der Juden in Deutschland aufgenommen würden, gäbe es ein differenziertes Bild „der Juden“ und damit die Chance, pauschalem Anti-Israelismus wirksamer entgegenzutreten.