In 100 Jahren schlug die Gemeinschaft viele neue Seiten auf

Büchergilde Gutenberg: Viele Kapitel ihrer Geschichte sind in Dortmund angesiedelt

100 Jahre schöne Bücher: Viele Mitglieder hoffen, dass es so weiter geht. Foto: Susanne Schulte für Nordstadtblogger.de

Von Susanne Schulte

Die Büchergilde Gutenberg feiert Jubiläum und die wichtigen Seiten ihrer nun 100jährigen Geschichte liegen im Archiv des Fritz-Hüser-Instituts in Bövinghausen. Dort, in der Sammlung der Literatur und Kultur der Arbeitswelt, sind sie gut aufgehoben. Das dachte sich auch 1997 Luise Dreßler, die Witwe des zweiten Büchergilde-Geschäftsführers Bruno Dreßler, und verkaufte dem Institut den gesamten schriftlichen Nachlass, der vom Werden und Wirken der Büchergilde erzählt sowie vom privaten Leben des Gründers und ersten Geschäftsführers Bruno Dreßler und seines Sohns und Nachfolgers Helmut Dreßler. Aufschluss über die Bedeutung der gewerkschaftlich orientierten Buchgemeinschaft in Dortmund geben geschäftliche und private Papiere, die Rudi Eilhoff, fast 30 Jahre lang der örtliche Geschäftsstellenleiter, an das Archiv weitergab.

Ein qualitativ hochwertiges Angebot für alle interessierten Menschen

Die Büchergilde, 1924 in Leipzig vom Bildungsverband der deutschen Buchdrucker als GmbH gegründet, hatte sich vorgenommen, „inhaltlich gute Bücher in technisch vollendeter Ausführung und nicht alltäglicher Ausstattung“ für alle Menschen zugänglich machen, die kein Geld hatten, im Buchhandel zu kaufen. Das Angebot sollte jede:r annehmen können.

Archivarin Michaela Wiegand arbeitet im Fritz-Hüser-Institut und sucht Besucher:innen alles heraus, was diese vor Ort lesen möchten. Foto: Susanne Schulte für Nordstadtblogger.de

„Das Eintrittsgeld und der monatliche Beitrag betragen je 0,75 Goldmark“, steht in der am 29. August 1924 verabschiedeten Satzung. Gedruckt wurde in der verbandseigenen Druckerei. Das Vorhaben glückte. Wie Peter Körfgen 1984 in der Gewerkschaftszeitung druck + papier schreibt, war der Roman „Wir sind Gefangene“ von Oskar Maria Graf für drei Mark zu bekommen statt für 15, wie im Buchhandel. ___STEADY_PAYWALL___

„Kaum vorstellbar. Auch damals nicht. Zumal jedes dieser Bücher die des übrigen Marktes qualitativ unvergleichlich überragte in Typographie, Illustration und Ausstattung“, so Körfgen.

„Mit heiteren Augen“ von Mark Twain startete das Büchergilde-Programm

Die guten Preise und die guten Bücher überzeugten bis 1933, als die Nazis die Büchergilde über die Deutsche Arbeitsfront unter ihre Kontrolle brachten, 85.000 Menschen. Der gute Preis war auch deshalb möglich, weil das Vertriebssystem über Vertrauensleute in den Betrieben nichts kostete.

Eine Erstausgabe des ersten Buchs, das die Büchergilde 1924 druckte: Mark Twains „Mit heiteren Augen“. Foto: Susanne Schulte für Nordstadtblogger.de

Hauptamtliche Büchergilde-Geschäftsstellen gab es lediglich in Hamburg und Berlin, Leipzig und München, Wien, Prag und Zürich. Die Vertrauensleute nahmen alle drei Monate die Bestellungen der Kolleg:innen entgegen und kassierten auch den Monatsbeitrag – 1933 betrug dieser 90 Pfennige, der mit dem Buchpreis verrechnet wurde. So war klar, welcher Titel wie oft gedruckt werden musste.

In den ersten knapp zehn Jahren ihres Bestehens brachte die Büchergilde 174 Bücher heraus. Das erste war „Mit heiteren Augen“ von Mark Twain. Das Buch, so protokolliert der Bildungsverband wenig später, hat eine „freundliche Aufnahme“ durch die Leser bekommen. Einer dieser Leser war der in Dorstfeld bei seinem Großvater lebende Fritz Hüser, Lehrling zum Former und Kernmacher bei der Dortmunder Maschinenfabrik Wagner & Co, und späterer Leiter der Dortmunder Stadtbücherei.

Im Zweiten Weltkrieg führte Bruno Dreßler die Geschäfte in der Schweiz weiter

Und mit diesem Buch wollte Helmut Dreßler, so seine Überlegung in einem Brief vom Oktober 1946, nach dem Krieg das Büchergilde-Programm in Deutschland wieder starten. Sein Vater Bruno Dreßler, Geschäftsführer der Büchergilde, hatte nach einer mehrwöchigen Festnahme durch die Nazis die folgenden Jahre in der Schweiz verbracht, dort die Büchergilde weitergeführt und bis 1945 110.000 Mitglieder von seiner Arbeit überzeugt.

Seit Jahren immer auf dem Buchtitel zu finden: das Signet der Büchergilde, die Buchpresse. Foto: Susanne Schulte für Nordstadtblogger.de

Sein Sohn sollte nun in Deutschland die Arbeit aufnehmen. Im März 1947 wurde die Büchergilde Verlagsgesellschaft m.b.H. gegründet, am 21. April 1948 folgte die Eintragung ins Handelsregister Frankfurt.

Gesellschafter:innen waren der DGB (Deutsche Gewerkschaftsbund), die IG Druck und Papier und die IG Graphisches Gewerbe. Es sollte mehr hauptamtliche Geschäftsstellen geben, einige nebenamtliche und das Bestell- und Vertriebssystem über Vertrauensleute bestehen bleiben.

Erste Büchergilde-Geschäftsstelle in Dortmund war an der Kaiserstraße

In Dortmund war eine nebenamtliche Geschäftsstelle vorgesehen. So lag im Januar 1949 im Briefkasten an der Dortmunder Adresse Kaiserstraße 19 ein an August Kopsieker, IG Graphisches Gewerbe und Papierverarbeitung, gerichteter Brief von der Frankfurter Büchergilde-Zentrale mit einer Liste von 25 Vertrauensleuten aus Dortmunder Betrieben.

Kopsieker bekam den Auftrag, diese nun von Dortmund aus zu betreuen. Die Vertrauensleute in der Stadt hatten bereits im zweiten Halbjahr 1948 an die bislang 444 Mitglieder in der Stadt sechs Buchtitel verteilen können. Darunter waren von Anna Siemsen „Literarische Streifzüge“ und „Lockruf des Goldes“ von Jack London, aber noch kein Mark Twain.

1,50 Mark zahlten die Büchergilde-Mitglieder an Monatsbeitrag und den gleichen Betrag an Eintrittsgeld. Wie vor 1933 wurden die Monatsbeiträge mit dem Buchpreis verrechnet. Für die nebenamtliche Betreuung gab es für die IG Graphisches Gewerbe eine „Umsatzprovision als Unkostenvergütung“.

Seit 1950 bringt Rudi Eilhoff die Büchergilde auf Vordermann

Die nebenamtliche Betreuung scheint nicht so gut geklappt zu haben, denn bereits im April 1950 wurde Rudi Eilhoff als hauptamtlicher Geschäftsstellenleiter angestellt. Er hatte sich in den Monaten zuvor als Vertrauensmann und Werber hervorgetan und brachte nun die Büchergilde in Dortmund auf Vordermann.

Rudi Eilhoff, langjähriger Geschäftsstellenleiter der Büchergilde Gutenberg in Dortmund. Foto: Archiv Hoesch-Werkszeitschrift „Werk und Wir“

Die Geschäftsstelle zog 1952 von der Kaiserstraße in das neu gebaute IG Metall-Haus am Ostwall 17 bis 21, bekam 1954 an der Weißenburger Straße 43 eigene Räume und kam 1967 wieder zum Ostwall zurück in das von den Architekten Schulz und Fröhlich gestaltete Ladengeschäft im Erdgeschoss.

Dort sei nun Platz, um die insgesamt 20.000 Exemplare der mehr als 1000 Buch- und Schallplattentitel zu lagern, steht dazu in den Dortmunder Bekanntmachungen vom 3. Februar 1967 anlässlich der Einweihung.

Die Dortmunder Vertrauensleute werben fast 15.000 Mitglieder

Eilhoff lobte und ermahnte, wie 1957 in einem der regelmäßigen Rundschreiben an die Vertrauensleute, dass in vielen Dortmunder Unternehmen noch keine Vertrauensmänner vor Ort seien. Aufgelistet sind hier namentlich unter anderen die Actien-, die Ritter- und die Bergmann-Brauerei, die Maschinenfabrik Deutschland, Hertie und Fischer Hettlage. Auch ohne Kundschaft in diesen Betrieben steigt die Zahl der Mitglieder stetig.

Immer wieder in der Vorweihnachtszeit: „Werk und Wir“ berichtet über das Angebot der Büchergilde. Foto: Archiv Hoesch-Werkszeitschrift „Werk und Wir“

1951 wurden in nur drei Monaten 1825 gewonnen, 1952 kamen 2300 dazu, 1953 genau 1376. Ende 1957 betreute die Dortmunder Geschäftsstelle 14.700 Mitglieder, etwa fünf Prozent aller Büchergilde-Mitglieder bundesweit. Hier erreichte die Zahl 1959 den Höchststand mit 283.900. Auch der Umsatz konnte sich sehen lassen: Die örtliche Geschäftsstelle gehörte häufig zu den fünf erfolgreichsten im ganzen Land.

Vor allem die Hoesch-Beschäftigten kaufen aus dem Sortiment. Von 1969 bis 1977 stehen in den November-Ausgaben der Werkszeitschrift „Werk und Wir“ – die komplett im Hoesch-Museum zu finden sind – stets Berichte zum Büchergilde-Programm. Dazu nennt Rudi Eilhoff meist die Umsätze aus dem laufenden Jahr und die Zahl der Büchergilde-Mitglieder bei Hoesch. So heißt es 1969:

Nein, nicht der Otto-Katalog, es ist das Angebot der Büchergilde: Plattenspieler und Radios konnten die Mitglieder 1974 auch kaufen. Foto: Susanne Schulte für Nordstadtblogger.de

„Das Buch als ,preiswerte Datenbank‘ für den Menschen in der modernen Gesellschaft . . . wird im Weihnachtsheft der Büchergilde Gutenberg einem breiten Leserpublikum vorgestellt. . . . Im letzten Jahr wurden von der Belegschaft für rund 250 000,– DM Bücher und Schallplatten über die Belegschaftsbetreuung und -versorgung bezogen.“

In allen drei Werken – Westfalenhütte, Phoenix und Union – gab es Verteilerstellen. 2.700 Hoesch-Mitarbeitende gaben in besten Zeiten 450.000 Mark für Bücher, Schallplatten, Spiele und Unterhaltungselektronik aus. Jede:r sechste Beschäftigte war Mitglied der Buchgemeinschaft.

Auszeichnung für 50 Jahre Treue: Fritz Hüser war Büchergilde-Mitglied seit 1924

Die Büchergilde spielt auch im Stadtgeschehen eine Rolle. Filmvorführungen in Brambauer und Hörde, Interviews mit Rudi Eilhoff anlässlich einer Jahrestagung und große Feste mit 500 Gästen zu runden Jahrestagen – darüber berichten auch die Zeitungen.

Auch schöne Buchrücken können entzücken: Erstausgaben der Büchergilde aus den Jahren 1924 bis 1933 – gesammelt von Fritz Hüser. Foto: Susanne Schulte für Nordstadtblogger.de

Im August 1974 laden Stadtbücherei und das Institut für deutsche und ausländische Arbeiterliteratur, dessen ehrenamtlicher Leiter Fritz Hüser nun ist, zur Ausstellung „50 Jahre Büchergilde Gutenberg“ ins Haus der Bibliotheken ein.

Wie es im Einladungsschreiben heißt, ist „eine Auswahl der Erstausgaben der Büchergilde Gutenberg, die von 1924/25 bis zum Verbot Anfang Mai 1933 erschienen sind“ zu sehen sowie Briefe und Manuskripte „aus dem Nachlaß des Redakteurs und Schriftsteller Ernst Preczang, dem ersten Lektor der Büchergilde Gutenberg“.

„Tendenz nach Simmel, nicht nach Grass oder Hesse“

Was nicht in der Einladung steht: Die Bücher sind aus Hüsers privater Sammlung. Er ist seit 1924 Mitglied und wird für seine Treue Ende 1974 von Rudi Eilhoff ausgezeichnet. Mit den Jahren lässt die Attraktivität der Buchgemeinschaft nach.

Zwei Seiten aus dem Weihnachtskatalog im Jubiläumsjahr 1974: Spannung und Erotik waren gefragt. Foto: Susanne Schulte für Nordstadtblogger.de

Im April 1967 sagt Rudi Eilhoff in einem mit „Der Arbeiter liest mehr Fachliteratur“ betitelten Artikel der Westfälischen Rundschau noch: „Der Bildungshunger ist größer geworden“ und nennt Natur- und Geisteswissenschaft sowie politische Literatur als die Themen, die die Dortmunder Mitglieder interessierten.

1975 dann notiert er auf ein Blatt neben der Statistik zum immer noch guten Verkauf bei Hoesch: „Tendenz nach Simmel, nicht nach Grass oder Hesse.“

Das Sortiment der Buchgemeinschaft hat an der Münsterstraße seine Heimat gefunden

1979 geht Rudi Eilhoff in Rente. Sein langjähriger Chef in Frankfurt, Dr. Helmut Dreßler, ist ein paar Jahre vorher gestorben. Das Betriebsklima ist ein anderes geworden. Doch Eilhoff hält Kontakt zur Gilde. Mit ehemaligen Kollegen und deren Frauen geht das Ehepaar Eilhoff auf Reisen. Man fährt nach Berlin und Münster, Hamburg und Bonn, später dann, ab 1984 stets in die IG Druck und Papier-Bildungsstätte Hörste.

Bücher aus acht Jahrzehnten: Charakteristisch sind Grete Willinskis Kochbuch, die Skandale der Republik und das Lexikon linker Leitfiguren. Foto: Susanne Schulte für Nordstadtblogger.de

Seit 1987 ist auch Luise Dreßler dabei, die Witwe von Helmut Dreßler. Über die 22 Treffen in 20 Jahren schreibt Eilhoff eine Dokumentation. Im öffentlichen Leben in Dortmund ist er weiterhin präsent. Als einer der Gründer von ZwAR (Zwischen Arbeit und Ruhestand) macht er viel von sich reden. 2008 stirbt er.

Im Namen des Rudi-Eilhoff-Bildungswerks in Marten bleibt er lebendig. Und die Büchergilde – ist nicht aus Dortmund wegzudenken. Als die mittlerweile privatisierte Buchhandlung am Ostwall 2010 plötzlich dicht machte, übernahm Litfass an der Münsterstraße das Büchergilde-Sortiment und nennt sich Partner-Buchhandlung.

Die Partner-Buchhandlung in der Nordstadt ist Litfass

Eigene Geschäftsstellen gibt es keine mehr, Vertrauensleute auch nicht, ebenso wenig wie den Mitgliedsbeitrag. Die Gewerkschaften verkauften das Unternehmen schon vor Jahren. Jetzt ist es eine Genossenschaft.

Karsten Schulz von der Buchhandlung Litfass präsentiert das Büchergilde-Angebot in einer eigenen Regalwand. Foto: Susanne Schulte für Nordstadtblogger.de

Heute werden die Bücher in mehr als 100 Partnerbuchhandlungen in über 100 deutschen Städten ausgestellt und verkauft. Karsten Schulz, Litfass-Geschäftsführer, widmet ein Schaufenster sowie eine komplette Regalwand dem so vielfach ausgezeichneten Buchangebot.

Vieles hat sich geändert, drei Dinge aber haben Bestand: das schön gestaltete Buch, der Büchergilde-Katalog und die Verpflichtung der Mitglieder, mindestens einen Artikel pro Quartal aus dem Büchergilde-Sortiment zu kaufen. Von bundesweit noch 56.000 Büchergilde-Freund:innen betreut Litfass die 500, die noch zum Bereich Dortmund gehören.


Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!

Unterstütze uns auf Steady

 

Print Friendly, PDF & Email

Reaktion schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert