Von Horst Delkus
Er war Professor für Maschinenbau, Wissenschaftsmanager und Unternehmer. Lange galt er als „der Logistik-Papst“. Als derjenige, der die Logistik als militärische Dienstleistung zivilisierte und für Handel, Industrie und Verkehr fruchtbar machte. Reinhardt Jünemann wurde mit seinen Talenten und Kontakten zu einem der maßgeblichen Motoren des Strukturwandels in Dortmund Anfang der 1980er Jahre. Zu einer Zeit, als es bei Hoesch noch hieß „Dortmund muss Stahlstandort bleiben – Stahlwerk jetzt!“, Kohle in Dortmund noch auf zwei Zechen gefördert wurde und „Bergmann“ noch nicht wieder auf dem Biermarkt war.
Jüneman war „Menschenfänger und Netzwerker“
Geschickt verstand es Reinhardt Jünemann, Fördermittel zu akquirieren und mit Geldern aus Unternehmen zu kombinieren. Egal, ob für den Bau einer Laborhalle seines Lehrstuhl, die H-Bahn, die den nördlichen und den südlichen Unicampus miteinander verband, oder das von ihm 1981 gegründete Fraunhofer-Institut. Er war ohne Zweifel ein großes Akquisitionstalent.
Ein Menschenfänger und Netzwerker. Kein großer Rhetoriker. Jemand der Ideen entwickelte – oder von seinen Mitarbeitern aufgriff. Und der andere davon überzeugen konnte, die Förderschatulle zu öffnen. So gelang es ihm 1980 – er war damals Prorektor – den ersten Sonderforschungsbereich der jungen Dortmunder Universität zu akquirieren. Davon profitierte über sieben Jahre nicht nur sein Lehrstuhl für Förder- und Lagerwesen, auf den er 1972 mit 36 Jahren berufen wurde, sondern die ganze Fakultät Maschinenbau.
Dieser Sonderforschungsbereich war eine Art Signalgeber. „Die Wissenschaften werden salonfähig in der Stadt des Bieres und der Rosen“ schlagzeilte die „Westfälische Rundschau“ damals. Er beschäftigte sich mit „Materialflusssystemen“, also Systemen zum Transportieren, Verladen, Lagern und Verpacken von Gütern. Neben transport- und lagerspezifischen Problemen ging es vor allem darum, wie Transporte und Lagerung optimal an den Produktionsprozess angepasst werden können,
„Logistik“ war damals mit industrieller Produktion noch ein Insider-Thema
Materialflusstechnik war Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre nur für wenige ein wissenschaftliches Thema. Damals war noch abfällig von „Sackkarren-Wissenschaft“ die Rede. Von „Logistik“ im Zusammenhang mit industrieller Produktion sprachen damals nur Insider.
Reinhardt Jünemann war einer der Ersten, der die Logistik als einen Schlüsselbegriff moderner Produktion eingeführt hat.
Bereits vor 50 Jahren, 1974, auf dem 1. Europäischen Materialflusskongress in Berlin, referierte Jünemann: „Nachdem die Logistik einen festen Platz innerhalb der Streitkräfte und Armeen bekommen hat, liegt es nahe, alle Raum-, Zeit-; Ver- und Entsorgungsprobleme in den Industrieunternehmen und der Volkswirtschaft eines Landes analog zu betrachten“, so Jünemann.
„In Industrieller Logistik sollen nicht nur die Materialflussvorgänge sondern auch der Fluss der Informationen und Daten von Mensch-Maschine-Systemen für alle raum- und Zeit überbrückenden Prozesse verschiedenster Art in Industrie-, Handels- und Dienstleistungsunternehmen betrachtet werden“, so der Logistik-Prof.
Erst Jahre später wurde Logistik zu einem Schlüsselbegriff unserer modernen Gesellschaft. Und zu einem wichtigen Wirtschaftssektor. Verbunden mit einem weitreichenden Ausbau der Lagerhaltung und Kommissionierung. Und des Transportes auf der Straße. Mehr LKW-Verkehr also. „Rollende Läger“ senken die Kosten für die Lagerhaltung.
Jünemann suchte die Nähe zu den Medien wie kaum ein anderer in der Welt der Wissenschaft
Reinhardt Jünemann verstand es auch, immer wieder Schlüsselwörter zu besetzen: Als in einer Studie des renommierten MIT die bei japanischen Autoherstellern „schlanke Produktion“ (lean production) Furore machte, dauerte es nicht lange bis die „lean logistics“, die schlanke Logistik, durch den die Fachgazetten geisterte. Jünemann suchte die Nähe zu den Medien wie kaum ein anderer in der Welt der Wissenschaft. Egal ob zu den Lokalzeitungen oder den überregionalen Fachzeitschriften der Branche.
Regelmäßig lud er sie ein, vor allem zu den von ihm 1983 initiierten „Dortmunder Gesprächen“, der ersten bundesweiten Fachveranstaltung für Logistik. Jünemann war es gewohnt, zu sagen, wo es lang ging. Mit wenigen Ausnahmen. Vor einer dieser „Dortmunder Gespräche“ sagte er zum Autor dieser Zeilen: „Jetzt geben Sie mir mal Anweisungen!“ Und das war ernst gemeint.
Besonders am Herzen lagen Jünemann zwei Hochschulpartnerschaften: die zur Universität Miskolc in Ungarn und die zum Georgia Institute of Technology in den USA. Die erste, weil er in Ungarn seiner neben der Logistik zweiten großen Leidenschaft, der Jagd, frönen konnte. Die zweite weil er, der in der ehemaligen DDR ausgebildet wurde und daher später nur gebrochen Englisch sprach, wusste, wie wichtig sehr gute englische Sprachkenntnisse auch für Ingenieure waren.
Sein Buch „Materialfluß und Logistik“ wurde zur „roten Bibel“ und dem Standardwerk
Seine Doktoranden – über 100 – versammelte der begnadete Netzwerker in einem eigenen Netzwerk, dem „Schmallenberger Kreis“, so benannt nach dem ersten Treffen im sauerländischen Schmallenberg. Unter seine Marke veröffentlichte Jünemann nicht nur zahlreiche Aufsätze sondern vor allem 1989 im renommierten Springer-Verlag ein Buch, das ihm sehr am Herzen lag: „Materialfluß und Logistik. Systemtechnische Grundlagen mit Praxisbeispielen“.
Es wurde zur „roten Bibel“ der Logistik. Darin natürlich die von Jünemann geprägten „6 R`s der Logistik“: „Der logistische Auftrag besteht darin, die richtige Menge der richtigen Objekte als Gegenstände der Logistik (Güter, Personen, Energie, Informationen) am richtigen Ort (Quelle, Senke) im System zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Qualität zu den richtigen Kosten zur Verfügung zu stellen.“
Ohne seine Frau Edeltraud im Hintergrund und seiner Sekretärin “Schicko“ wäre Jünemann vielleicht nicht das geworden, was er wurde. Insbesondere „Schicko“ organisierte für ihn den beruflichen Alltag. Sie entschied nicht nur über Jünemanns Termine sondern auch über sein Umfeld. Sie war der der „gate keeper“: Wer bei ihr schlechte Karten hatte, konnte lange warten. Auf einen Termin bei Jünemann oder eine Promotion.
Jünemann war nicht nur ein erstklassiger Wissenschaftsmanager seiner Zeit sondern auch ein Wissenschaftsunternehmer, ein Entrepreneur. „Die erste Million zu verdienen, ist die schwerste“, sagte er mir einmal. Er war Geschäftsführer der H-Bahn-Gesellschaft und der Gesellschaft für Prozessautomation GPA, die auch Mitgesellschafterin der Technologiezentrum GmbH wurde. Weitere spin off-Unternehmen seines Lehrstuhls und Instituts im jungen Technologiezentrum, an denen Jünemann beteiligt war, waren zum Beispiel das SimulationsDienstleistungsZentrum SDZ und die Reinoldus Transport- und Robotertechnik RTR. Die erste Halle des Dortmunder Technologiezentrums war ganz auf Materialfluss ausgerichtet: Sie hatte sogar eine eigene Krananlage.
MP Clement machte Jünemann im Jahr 2000 zum Geschäftsführer der Projekt Ruhr GmbH
Einen engen Draht pflegte Jünemann zur Politik, vor allem zu Abgeordneten und Ministern. Der Dortmunder Franz-Josef Kniola und die Rheinländerin Anke Brunn waren gern gesehene Gäste, gab es doch immer wieder etwas zu fördern und zu eröffnen.
Einer, Wolfgang Clement, erst Wirtschaftsminister und dann Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, machte Jünemann im Jahr 2000 zum Geschäftsführer seiner Projekt Ruhr GmbH, der ersten Wirtschaftsförderungsgesellschaft für das Ruhrgebiet. Der Job war zwar eine große Ehre und schmeichelte Jünemann, lag dem zu eher unkonventionellem denn bürokratischen Handeln neigenden Macher allerdings nicht lange.
Am Herzen lag Reinhardt Jünemann immer die Aus- und Weiterbildung von Logistikern. Hierzu entwickelt er neue Studiengänge und baute eine private Hochschule in Hamm auf, deren Gründungsrektor er wurde. Damit machte er Hamm 2005 zur Hochschulstadt.
Zahlreiche Ehrungen, darunter das Verdienstkreuz am Bande und der Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen, und einige Ehrendoktorwürden schlugen sich auch in seinem Titel wieder, auf den er großen Wert legte: Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. mult., was für den mit akademischem Brauchtum nicht so Vertrauten so viel heisst wie: Universitätsprofessor, Doktor der Ingenieurwissenschaften und mehrfacher Ehrendoktor.
Reinhart Jünemann starb am 5. Juli im Alter von 87 Jahren. Für den Wissenschafts- und Technologiestandort Dortmund war er einer der wichtigsten Impulsgeber.
Hinweis zu Horst Delkus: Der Autor war Ende der 1980er Jahre Redakteur für Wissenschaft und Technik an der Uni Dortmund und Anfang der 1990er Jahre Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Dortmunder Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik
Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!
Reader Comments
Dieter Grützner
Eine gewohnt gründliche Fleißarbeit des Autoren.