Nach genau einem Monat Prozesspause richteten sich am Mittwoch (22. Mai 2024) alle Augen im Gerichtssaal auf den Todesschützen – denn dieser hatte angekündigt, sich zur Sache einzulassen. Erstmals äußerte er sich selbst zu dem tödlichen Polizeieinsatz, bei dem er den jungen senegalesischen Geflüchteten Mouhamed Lamine Dramé mit einer Maschinenpistole erschoss. Mit emotionalen Worten richtete sich der Polizist auch direkt an die beiden Brüder des 16-jährigen Opfers, die seit Januar an dem Prozess vor dem Dortmunder Landgericht teilnehmen.
Polizist freiwillig als „Sicherungsschütze“ eingeteilt
Die Anspannung war dem 30-Jährigen an diesem besonderen Prozesstag anzumerken. Wie zuvor angekündigt äußerte sich der inzwischen suspendierte Polizist erstmals im Verfahren, in dem neben ihm noch vier weitere Polizist:innen angeklagt sind.
Seine Aussage deckte sich größtenteils mit denen der zuvor abgegeben Zeugenaussagen, sowie Einlassungen der Mitangeklagten. Man habe sich an der Kreuzung Holsteiner Str./Brunnenstraße zur Einsatzbesprechung getroffen. Anders als bisher bekannt, sagte der Polizist, dass er die Aufgabe des sogenannten „Sicherungsschützen“ freiwillig übernommen habe.
Die Übernahme dieser Position hätte untereinander zwischen ihm und seiner Streifenwagen-Kollegin entschieden werden müssen. Zuvor hieß es, der mit angeklagte Dienstgruppenleiter habe ihn direkt zugeteilt. Der gesamte Einsatzplan sei indes nicht kritisch hinterfragt worden.
Taser sollte eigentlich nur der Sicherung dienen
Über Funk sei ihm zugetragen worden, dass Mouhamed Dramé regungslos im Innenhof sitze und auf Ansprachen nicht reagiere. Als er sich kurze Zeit später selbst ein Bild des Geschehens machte, bestätigte sich dieser Eindruck. Dramé habe sich oberkörperfrei die Messerklinge an die Bauchdecke gehalten. Dabei sei er leicht nach vorne gebeugt in der Hocke gewesen. Zu diesem Zeitpunkt betrug die Distanz zwischen dem Polizisten und dem Jugendlichen ungefähr sechs Meter.
Nach mehrfacher Anweisung des Einsatzleiters das Pfefferspray einzusetzen, sei Dramé davon zwar getroffen worden, jedoch habe sich nicht, wie sonst üblich, ein konzentrierter-, sondern vielmehr ein Sprühstrahl gebildet. Ziel sei gewesen, dass Dramé das Messer fallen lässt und sich die Augen reibt, „Ich weiß nicht, ob das gesagt wurde, aber mir war‘s klar“, so der Polizist.
Nach dem Einsatz von Pfefferspray habe sich der 16-Jährige aufgerichtet, kurz orientiert und sei dann direkt in Richtung der Beamt:innen losgelaufen. Das Messer hielt er dabei laut Aussage von S. weiterhin in der rechten Hand. Daraufhin habe er einen Knall – ausgelöst durch einen Taser – gehört, habe aber keine Fäden gesehen. Den Gebrauch des zuvor benutzten ersten Tasers habe er gar nicht mitbekommen. Interessant: Der DEIG (Distanzelektroimpulsgerät) sollte eigentlich nur zur Sicherung dienen, seines Wissens nach war ein Einsatz des Geräts nicht geplant.
Angeklagter Polizist: „Man ist froh, wenn man überhaupt trifft“
Angesprochen auf den Moment seiner Schussabgabe, erklärte der mutmaßliche Todesschütze vor dem Landgericht Dortmund: Als er gesehen habe, wie Dramé weiterlief, habe er gedacht: „Jetzt muss ich“, so der Angeklagte. 5-6 Schüsse habe er abgegeben, für einen Warnschuss sei keine Zeit gewesen: „Man ist froh, wenn man überhaupt trifft.“
Am Ende hat er getroffen – fünf Mal. Erst durch das Zusammensacken sei das erkennbar gewesen. Der Jugendliche sei dann von zwei Kolleg:innen mit Handschellen fixiert worden.
Das Messer habe sich unter dem Körper befunden und sei von einer Kollegin gefunden worden. Der 30-Jährige habe daraufhin Schusswunden am Jochbein, der Schulter und dem rechten Unterarm entdeckt. Weitere Verletzungen habe er nicht feststellen können.
Schießtraining mit baugleicher Waffe eine Woche nach dem Einsatz
Am 1. September 2022, knapp drei Wochen nach dem Einsatz, sei S. suspendiert worden. Zuvor war er weiterhin im Streifendienst eingesetzt, wobei er rund eine Woche nach dem Vorfall aus freien Stücken zum Schießtraining mit der MP5 gegangen ist – die gleiche Waffe, die auch gegen Mouhamed Dramé eingesetzt wurde. Seit der Suspendierung habe er aber nicht mehr geschossen.
Sein Anwalt Christoph Krekeler ordnet das wie folgt ein: „Bewerten Sie das als Selbsttherapie. Jemand stellt sich genau der Situation noch einmal, die er so traumatisiert in dem Moment, nämlich vor wenigen Tagen zuvor, erlebt hat. Wenn er irgendwann nochmal einsatzfähig in der Polizei sein könnte und sein sollte, dann nur indem er dieses Geschehen unter normalen Bedingungen überwindet.“
Wie Chatnachrichten aus dieser Zeit darlegen, traf das Statement der Staatsanwaltschaft auf großes Unverständnis bei dem 30-Jährigen. Insbesondere die Formulierung, dass es unklar sei, ob Dramé sich auf die Beamt:innen zubewegt habe, konnte der Polizist der Nordwache nicht nachvollziehen. Seiner Aussage nach ginge dies klar aus den Akten hervor.
Rückhalt aus der Führungsetage der Dortmunder Polizei
Auch nach dem Einsatz habe er weiterhin Kontakt zu Kolleg:innen gehabt. Es habe auch eine Besprechung mit dem Polizeipräsidenten Gregor Lange gegeben, der über Video zugeschaltet war.
Lange habe auf Betreuungsangebote aufmerksam gemacht und sei seiner Fürsorgepflicht nachgekommen. Dies seien „Floskeln, die ein Vorgesetzter schonmal sagt“, allerdings habe es keine wirkliche interne Nachbereitung des Einsatzes gegeben.
Der Leiter der Polizeidirektion Gefahrenabwehr, Achim Stankowitz, habe ihm gesagt, er habe so regiert, wie er es von ihm erwartet habe. Auch nach der Suspendierung sei er im Büro von Stankowitz gewesen, dabei sei ihm Mut zugesprochen worden.
„Man weiß, man hat einen Menschen getötet, aber es wirkt trotzdem surreal“
Bis dato wirkte der Angeklagte konzentriert und gefasst. Als es um den Moment der Todesnachricht geht, wird es emotional auf beiden Seiten. Der 30-Jährige kämpft, wie auch die Brüder Sidy und Lassana Dramé mit den Tränen. Eine halbe Stunde nach Eintreffen auf der Wache habe er die Nachricht über das Ableben Dramés erhalten.
Es habe sich so angefühlt, als bliebe sein Herz stehen. „Man weiß man hat einen Menschen getötet, aber es wirkt trotzdem surreal“, sagte der mutmaßliche Todesschütze sichtlich kämpfend die Kontrolle über seine Emotionen zu behalten.
Am Ende wandte sich der Polizist noch direkt an Sidy und Lassana Dramé, die den Prozess seit dem 31. Januar persönlich verfolgen: „Ich will mir nicht vorstellen, wie es ist, auf diese Weise einen Familienangehörigen zu verlieren.”
Er sprach der Familie sein aufrichtiges Mitgefühl aus: „Natürlich weiß ich, dass ich für den Tod verantwortlich bin.“
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