Zum elften Mal wurde am Mittwoch (17. April 2024) der Fall des getöteten Senegalesen Mouhamed Lamine Dramé verhandelt. Erstmals ließen sich zwei Angeklagte zur Sache ein. Im Zuge der Verhandlung entschied der Vorsitzende Richter Thomas Kelm, dass die unmittelbar nach der Tat getätigten Zeugenaussagen der Beschuldigten nicht verwertbar seien. Die Nebenklage reichte Beschwerde ein.
Einsatzleiter und Taser-Schütze schilderten das Tatgeschehen aus ihren Perspektiven
Wie zuvor angekündigt ließen sich erstmals der angeklagte Einsatzleiter und ein Taser-Schütze zur Sachlage vom 8. August 2022 ein. Beide sagten vollumfänglich selbst vor Gericht aus, beantworteten die Fragen des Vorsitzenden, der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage.
Die Schilderungen des Einsatzleiters hielten kaum neue Informationen bereit. Er führte aus, mit dem Hinweis, eine suizidale Person mit einem Messer befände sich im Innenhof, zur Holsteinerstraße gerufen worden zu sein. Dort angekommen habe er zunächst zivile Kräfte zu Aufklärungszwecken losgeschickt.
Er bestätigte, bei der Einsatzbesprechung die Einsatzmittel an die anwesenden Beamt:innen verteilt zu haben. Die Worte „last man standing“, die er zu dem Sicherungsbeamten und späteren Schützen gesagt haben soll, seien aber „eigentlich nicht mein Sprachgebrauch“.
Dramé soll nach Reizgas-Einsatz „schlagartig aufgesprungen und losgelaufen“ sein
Zudem ordnete er an, dass sich die Beamt:innen aufteilten. So habe er bewirken wollen, dass die Beamt:innen, die Reizgas einsetzten, im Falle einer Reaktion des 16-Jährigen durch den dazwischenliegenden Zaun abgesichert seien.
Auf die Frage, ob er die Lage hätte halten und andere Kräfte anfordern können, erklärte der Beamte: „Das hat immer so geklappt mit meinen eigenen Kräften.“ Er sagte aus, Mouhamed Lamine Dramé sei nach dem Pefferspray-Einsatz „schlagartig aufgesprungen und losgelaufen (…) ohne zu verharren“.
Auf die Frage, ob Dramé zielgerichtet mit dem Messer in der Hand auf die Beamt:innen zugelaufen sei, antwortete der Polizist mit „Nein“. In vorherigen Zeugenvernehmungen vor Gericht war immer wieder die 7-Meter-Abstandsregel der Polizei zu mit Messern bewaffneten Personen diskutiert worden. Doch auch der Einsatzleiter gab an, er und seine Kollegin hätten ihre Positionen rund drei Meter entfernt von dem suizidalen Jugendlichen eingenommen, nur so sei die Treffsicherheit gesichert.
Einsatzleiter soll Chats in seinem Handy gelöscht haben: „Ich habe nichts verheimlicht“
„Hatten Sie nach dem Tatgeschehen Kontakt mit ihren Kollegen?“, fragte Richter Thomas Kelm den Angeklagten. Dieser bejahte. Kelm fragte weiter, ob man auch gemeinsam versucht habe, den Einsatz zu analysieren. Noch vor Ort sei man der Meinung gewesen, „dass der Einsatz für uns gut gelaufen ist“, erwiderte der Beamte.
Vom Tod des Geflüchteten habe er erst später „entsetzt“ erfahren, „das war nicht unser Ziel“, betonte er. „Ihre Kollegen, die ihr Handy ausgewertet haben, gehen davon aus, dass Sie Chats gelöscht haben“, hielt Lisa Grüter, Anwältin der Nebenklage, dem Einsatzleiter vor.
Dieser entgegnete: „Ja, weil ich in meinem Handy immer die Chats lösche. (…) Ich habe nichts verheimlicht.“ Der Beamte führte weiter aus, seine Chats nach einer Unterhaltung immer zu löschen, ähnlich wie bei einem Anruf, wo man nach dem Gespräch auflege.
Einsatz von Pefferspray sollte entwaffnen: Aber wie wirkt Pfefferspray bei suizidalen Personen?
Ziel des Einsatzes sei es gewesen, den Jugendlichen mittels des Reizgases zum Ablegen des Messers zu bewegen und ihn dann zu überwältigen, alle anderen Einsatzmittel seien Sicherungsmaßnahmen gewesen, erklärte der Einsatzleiter. „Ist Ihnen die Diskussion zur Wirkung von RSG8 bei Menschen in psychischen Ausnahmesituationen bekannt?“, fragte Polizeiwissenschaftler und Jurist Professor Thomas Feltes.
Der 55-jährige Dienstgruppenleiter bejahte und erklärte, es gebe grundsätzlich auch Menschen, bei denen Reizgas schlichtweg nicht wirke. „Wissen Sie auch, dass es so wirken kann, dass es erst Aggressivität verursacht?“, fragte Feltes weiter. Dieser Umstand sei ihm weder erfahrungsgemäß, noch in der Fachliteratur bekannt, teilte der Angeklagte mit.
Weiter gab er an, dass Mouhamed Lamine Dramé auf Zehenspitzen vornübergebeugt gestanden haben soll. „Ein leichtes nach vorne Fallen hätte bewirkt, dass er sich das Messer in den Bauch rammt“, sagte der Dienstgruppenleiter. Deshalb habe Zeitdruck – Handlungsdruck – bestanden.
Rechtsanwältin Lisa Grüter hielt dem Beamten vor, seine Kollegin habe gemäß der Handyauswertung in einem Chat Zweifel an dem Einsatzplan geäußert, sie habe sich gefragt, ob man die Lage alternativ auch statisch hätte halten können.
Polizeibeamt:innen kletterten in den falschen Innenhof des kirchlichen Gebäudekomplexes
Der 34-Jährige Taser-Schütze erklärte, von dem gesamten Einsatz nur recht wenig mitbekommen zu haben. Geschuldet sei dies dem Umstand, dass er und seine Kolleg:innen auf dem Weg zu einem Einsatz in Dortmund-Eving gewesen seien und somit zuletzt an der Holsteinerstraße eintrafen.
Sie hätten lediglich das Ende der Einsatzbesprechung noch wahrnehmen können, hätten eine „minimale Kurzeinweisung“ erhalten. Ihm sei dabei das Distanzelektroimpulsgerät (Kurz: DAIG, Taser) zugeteilt worden, seiner Kollegin das RSG8, das Reizgas. „Sie sollen gesagt haben ,Ich nehm den DAIG!’“, hielt Richter Kelm dem Angeklagten vor. Dieser gab an, sich daran nicht erinnern zu können.
Er sei dann mit seinen Kolleginnen um den Häuserblock gezogen. Auf dem Weg zur Missundestraße sei ihnen jedoch ein Fehler unterlaufen: Die Beamt:innen nahmen an, es handele sich bei dem Kirchengebäude um einen Komplex, daher seien sie durch Überwinden des Zauns in den östlichen Innenhof gelangt.
Taser-Schütze feuerte durch kleines Sichtfenster in Gebüsch und Zaun
Auf der Missundestraße angekommen hätten sich die Beamt:innen hinter einem großen Stromkasten versteckt. Der 34-Jährige Beamte habe dort den Taser vorab getestet, um sich auf den Einsatz vorzubereiten. Er habe über Funk die Kolleg:innen nach der genauen Position des Jugendlichen gefragt, aufgrund technischer Probleme habe er jedoch kaum etwas verstanden und mehrfach nachgefragt. Dann sei die Anordnung des Reizgas-Einsatzes erfolgt.
Dazu seien die Beamt:innen aus ihrer Deckung raus gekommen. Der Beamte fand ein Sichtfenster im Gebüsch, das hinter dem Zaun auf der Seite des Innenhofs lag. „Ich stand Mouhamed Dramé frontal gegenüber“, beschrieb er seine Position. Dann habe seine Kollegin, die etwa zwei Meter neben ihm gestanden habe, das Pfefferspray eingesetzt, das seines Erachtens nach den Geschädigten links im Gesicht und an der Schulter traf.
Daraufhin habe Mouhamed Lamine Dramé eine „Auftaktbewegung zum Laufen“ gemacht, weiterhin mit dem Messer in der Hand. Deshalb habe der Beamte aufgrund der Eigen- und Fremdgefährdung eigenmächtig entschlossen, den Taser einzusetzen. Das habe aber keine Wirkung gezeigt, Dramé sei weiter in Richtung der Beamten im Innenhof gegangen, daraufhin seien etwa vier Schüsse gefallen.
„Das alles konnte ich nicht sehen, mein Sichtfenster war wegen des Gebüschs beschränkt“, erklärte der Beamte. Er sei dann dem Rettungswagen ins Unfallklinikum Nord gefolgt, um die Beweismittel des Tasers sicherzustellen. Da Dramé dann aber in den Schockraum verbracht wurde, sei dies nicht erfolgt.
Hatte der suizidale Jugendliche einfach „keine Lust“ den Aufforderungen nachzukommen?
Polizeiwissenschaftler und Professor Thomas Feltes hielt dem Beamten vor, in einer Sprachnachricht an einen Kollegen von einer „Zeitlage“ gesprochen zu haben. Darunter verstehe man einen für einen längeren Zeitraum geplanten Einsatz, erklärte der Angeklagte. „Wir hatten Zeit uns konzeptionell aufzustellen und zu besprechen, das meinte ich damals vermutlich mit dem Begriff ,Zeitlage’“, erklärte der 34-Jährige.
„Wie wirkte Mouhamed auf sie als er da saß?“, fragte Feltes den Angeklagten weiter. „Dass er auf die Aufforderungen der Polizei als solche keine Lust hat“, entgegnete der Angeklagte.
„Diese Aussage hat mich schon sehr erschrocken, weil ich eigentlich die Ansicht habe, dass man da keine zwei Meinungen zu haben kann. Bisher haben alle Zeugen beschrieben, dass er apathisch war und sich in einer psychischen Ausnahmesituation befand und der Zeuge gibt ihm jetzt eine negative Verhaltenskonnotation, als wenn Mouhamed schlichtweg keine Lust gehabt hätte. Das finde ich schon ein schwieriges Menschenbild, was er da offenbart“, bewertet Rechtsanwältin Grüter von der Nebenklage die abschließende Aussage des angeklagten Polizisten.
„Die Wichser aus RE“ sind doch „behindert“ – Der Angeklagte zog im Chat über Kolleg:innen her
Immer wieder wurde diskutiert, ob den Angeklagten Vorhalte aus ihren Zeugenvernehmungen gemacht werden dürfen. Die Grundsatzfrage, ob die kurz nach der Tat getätigten Zeugenaussagen der jetzt Angeklagten als Beweismittel verwendet werden können, war bis zum heutigen Verhandlungstag nicht geklärt worden. Richter Kelm entschied sich dagegen – obwohl die Angaben der Angeklagten, die sie als Zeug:innen machten, die heutige Anklageschrift vollumfänglich trugen, so die Nebenklage.
In ihrem Antrag, der das Beweiserhebungs- und verwertungsverbot hinsichtlich der Zeugenaussagen beanstandet, erklären Lisa Grüter und Professor Feltes, dabei sei „einerseits die Schwere des Verstoßes zu berücksichtigen, andererseits das durch den staatlichen Strafanspruch zu schützende Rechtsgut.“
Zudem seien die heute Angeklagten – wenn auch als Zeugen – über ihre Selbstbelastungsfreiheit, sowie das Recht auf einen rechtlichen Beistand aufgeklärt worden.
Dass die Angeklagten über die Möglichkeit der Beschuldigteneigenschaft und des damit einhergehenden Aussageverweigerungsrechts informiert waren, zeige ein Chatverlauf des 34-Jährigen mit seiner damaligen Freundin, ein Tag nach der Tat. Demnach hätten „die Wichser aus RE“ – die Beamt:innen der Mordkommission Recklinghausen – ihm nicht mitgeteilt, ob er als Zeuge, oder als Beschuldigter vernommen werde und ihn ermahnt, ihn im Zweifelsfall über die Staatsanwaltschaft vorladen zu lassen.
Dies kommentierte seine damalige Lebensabschnittsgefährtin mit der Aussage „Die sind doch behindert“ und ergänzte, er solle als Beschuldigter gar nicht aussagen und als Zeuge nur knapp.
Zudem habe er als Beschuldigter das Recht sich zur Sache nicht zu äußern und könne über die Gewerkschaft rechtlichen Beistand bekommen. Sie fragte ihren damaligen Freund zudem, ob er darüber mit seinem Chef gesprochen habe, das bejahte der Angeklagte im Chat.
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Reader Comments
Wolfgang Richter
Die Überschriften der Berichte zum Prozess um den von Polizei verursachten Tod eines jugendlichen Flüchtlings benutzen in Varianten stets seinen Namen Mouhamed Dramé – nun heißt es umstandslos „Mouhamed-Prozess“, bisher hieß es oft „Fall Mouhamed Dramé“. Aber es ist nicht sein „Fall“ und auch nicht „sein Prozess“, sondern der von Polizisten aus der Wache Nord. Es ist zu fürchten, dass der Versuch, polizeiliches Versagen zu be- und verurteilen, zu kurz greift und Ihr Sprachgebrauch Bewährungen und Freisprüche produzieren hilft.
Der Totschlag war eine Tat im Rudel – eine ganze Polizeiwache uniformiert und zivil gekleidet war engagiert und kollektiv beteiligt. Ein Einsatzleiter hat befohlen – ist ihm niemand ins Wort gefallen? Zwei Beamte haben Nahkampfinstrumente eingesetzt – hat keiner ihrer Kameraden Halt gerufen? Ein Waffenträger hat geschossen – hat ihm niemand die Waffe aus der Hand gedreht?
Lange wurde recherchiert, wer im Rudel mehr und wer weniger beteiligt war. Das ist gut. Aber anzuklagen ist vor allem auch die Rudelbildung selbst und ihre gedankliche und ideologische Verfassung. Polizeipräsident und Justizminister tragen Verantwortung, der sie nicht gewachsen sind.
Wolfgang Richter
Dortmund, 18.04.2024