Ist die distanzierte Mitte durch die Correctiv-Recherche aufgewacht?

Pandemischer Populismus: Die „Mitte-Studie“ über Demokratievertrauen in Krisenzeiten

Die „Mitte-Studie“ zu rechtsextremen und demokratiegefährdenden Einstellungen in Deutschland 2022/2023. Foto: Paulina Bermúdez

Anfang des Jahres wurde die „Mitte-Studie“ zu den gesamtgesellschaftlichen politischen Einstellungen aus den Jahren 2022 und 2023 veröffentlicht. Das Fazit: Die Mitte der Gesellschaft ist distanziert, demokratiefeindliche und rechtsextreme Positionen nehmen zu – ein Widerspruch zu den großen Protesten gegen Rechtsextremismus, die seit Januar andauern. Ist die distanzierte Mitte wieder aufgewacht?

Die distanzierte Mitte: Kalt und leidenschaftsfeindlich gegenüber unserer Demokratie

Die „Mitte Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung wird seit 2006 in einem zweijährigen Abstand veröffentlicht. Das Anliegen: Einen Blick in die Mitte der Gesellschaft werfen. Beate Küpper ist Sozialpsychologin und Professorin an der Hochschule Niederrhein und seit 2014 Hauptautorin der Studie, die sie bei einer Veranstaltung in Dortmund vorstellte.

Beate Küpper stellte die aktuelle „Mitte-Studie“ vor. Foto: Paulina Bermúdez

„Wir sehen hier eine distanzierte Mitte, die kalt und leidenschaftsfeindlich der Demokratie entgegensteht“, erklärte sie zu Beginn ihres Vortrags. Das überrasche jedoch nicht, denn „antidemokratische Phänomene gelten als besonders virulent in Krisenzeiten“, so Küpper.

Geprägt habe die Gesellschaft vor allem die Pandemiezeit – und der „pandemische Populismus“, wie sie den Versuch, Megatrends zusammenzubinden, nennt. Das Problem: Eine Verschwörung komme selten allein, wer bereits an eine Verschwörung glaubt, glaube eher auch an Weitere.

„Pandemischer Populismus“ bündelt Megatrends und verfestigt antidemokratische Positionen

„Wir konnten beobachten, dass Menschen, die eher aus einem links-grünen Spektrum kamen, die vorher – das möchte ich betonen – in keinster Weise aufgefallen sind mit rechtsextremen Einstellungen, abgeholt wurden und teils im Milieu hängen geblieben sind“, erläuterte sie weiter.

Der Reichstag in Berlin ist ein beliebtes Reiseziel. Foto: Alex Völkel
Die Parlamente in Washington, Berlin und zuletzt in Brasilien waren Ziel von Attacken durch Rechtsextreme. Archivbild: Alex Völkel für Nordstadtblogger.de

Ein besonders einprägsames Beispiel der Zuspitzung: „Der Sturm auf den Reichstag“. Die Sozialpsychologin stellte fest: „Da sind Otto-Normalbürger mit erkennbaren Rechtsextremen auf die Straße gegangen, und haben versucht, das Reichstagsgebäude zu stürmen.“ Und das sei kein rein deutsches Phänomen: Auch in Washington und zuletzt in Brasilien kam es zu identischen Vorfällen. Sie ergänzte: „Das wird gemacht, um Macht zu demonstrieren. Damit genau solche Bilder entstehen und um die Welt gehen.“

Zudem entstehe eine neue nationale und soziale „Querfront“, die man in Frankreich am Beispiel Marine Le Pens beobachten könne. Diese „Querfront“ bespiele derzeit vor allem die Themen Migration, Geflüchtete, Islam, Klima und Energie, Gender*, Corona und Krieg gegen die Ukraine, die mit antisemitischen Verschwörungsideologien unterfüttert werden. Dahinter stehe jedoch immer das Konzept des Populismus‘ und der Gedanke: „Wir werden als moralisch reines Volk um das betrogen, was uns zusteht.“

Rassistische Vorurteile in Krisenzeiten wieder „aufwärmbar“

In Deutschland seien der Bauch des Eisbergs die Einstellungen und das Handeln der Bevölkerung. „In kleinen Kommunen sind Menschen, die sich politisch engagieren heftigen Bedrohungen ausgesetzt, auch Menschen, die sich gerade bei Demonstrationen gegen Rechts engagieren“, informierte die Autorin der Studie.

Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Hinzu kämen rassistische Ressentiments, die in Krisenzeiten wieder „aufwärmbar“ seien. Ein Beispiel: Auf der Spiegel-Titelseite von Februar 2020, die das Corona-Virus behandelte, stand „Made in China“, in gelben Buchstaben geschrieben. Küpper ordnete ein: „Vorurteile gegen asiatische Menschen waren beinah weg, dann kam die Corona-Pandemie und auf dem Spiegel-Cover war „die gelbe Gefahr“ wieder da.“

Die „Mitte-Studie 2022/2023″ mit dem Titel „Demokratievertrauen in Krisenzeiten“ sei eine „sehr konservative Annäherung an das, was wir gerade als Stimmungslage haben“, stellte Küpper klar. Grund sei, dass es sich um eine telefonische Umfrage handele und Menschen zurückhaltender im sozialen Kontext seien. Zudem gäbe es insgesamt eine starke Abnahme der Bereitschaft, sich befragen zu lassen.

Personen mit geschlossen rechtsextremem Weltbild haben sich mehr als verdoppelt

„Wir haben einen Maßstab, um ein geschlossen rechtsextremes Weltbild festzustellen. Dabei müssen die Personen allen 18 Aussagen zustimmen“, erklärte Beate Küpper. Diese Personenanzahl hat sich seit 2014 mehr als verdoppelt. Waren es vor zehn Jahren noch 2,5 Prozent, so sind es in der aktuellen Studie 8,3 Prozent.

Die „AfD“, rassistische Denkmuster und rechtsextreme Einstellungen gehen Hand in Hand. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Die Parteipräferenz der Personen, die nach den Kriterien der Studie ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben, ist zum größten Anteil von 24,1 Prozent die „AfD“. Es folgt mit 15,9 Prozent die „FDP“.

Die Autor:innen der Studie sind sich einig: Wichtig sei es, die demokratiefreundlichen und Rechtsextremismus ablehnenden Menschen, die immer noch den größten Prozentsatz bilden, stärker wertzuschätzen und einzubinden und die Menschen im Graubereich abzuholen. Gleichzeitig sollten gefestigte Rechtsextreme abgegrenzt werden.

Fremdenfeindlichkeit und Wunsch nach Autokratie: Nährboden für Diktaturen

Ein kleiner Einblick in die aktuelle „Mitte-Studie“: Der Aussage „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“ stimmten 23,9 Prozent der Befragten voll und ganz oder überwiegend zu. 19,2 Prozent stimmten teils-teils zu.

Viele Menschen nehmen Personen anderer Kulturen und Religionen offenbar als Gefahr wahr. Thomas Engel | Nordstadtblogger

Außerdem fanden 27,8 Prozent voll und ganz oder überwiegend, dass die Bundesrepublik durch die „vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ sei. 22,2 Prozent befürworteten die Aussage teils-teils.

Da müsse man deutlich klar machen, zu was das führt, wenn man das zu Ende denkt, so die Autor:innen der Studie. „1932 hätten die Wenigstens gedacht, dass sie wenige Jahre später dabei zu sehen, wie ihre Nachbarn deportiert werden. So ruckizucki kann das gehen!“, mahnte Sozialpsychologin Küpper.

Sinkendes Vertrauen in Medien und Behörden, dafür Zunahme populistischer Einstellungen

Zu beobachten ist, dass sowohl das Vertrauen in staatliche Behörden, als auch das Medienvertrauen um rund 10 Prozentpunkte im Vergleich zu 2018/2019 sank. Dabei nahm das Gefühl der politischen Machtlosigkeit um knapp 10 Prozentpunkte zu. Hinzu kommt, dass Verschwörungsglauben von 33,5 (2018/2019) auf 38 Prozent stiegen, ebenso wie populistische Einstellungen: Aussagen, wie „die regierenden Parteien betrügen das Volk“ stimmten 32,6 Prozent zu, 2018/2019 betrug die Zustimmung noch 25 Prozent.

Pandemie-Populismus und Fake-News: Wie groß ist der Vertrauensverlust in die deutschen Medien? Foto: Leopold Achilles für Nordstadtblogger.de

Auch die Billigung politischer Gewalt, die als letzte Stufe der demokratiegefährdenden Radikalisierung aufgeführt wird, verdoppelte sich. Während 2018/2019 6,4 Prozent Aussagen wie „Einige Politiker haben es verdient, wenn die Wut gegen sie schon mal in Gewalt umschlägt“ zustimmten, waren es nun 12,3 Prozent.

„Wir als Gesellschaft haben uns die Prägungen aus der Weimarer Zeit und dem Nationalsozialismus nicht richtig angeschaut“, erklärte Küpper, denn es sei festzustellen, dass dort, wo die NSDAP 1933 hohe Stimmanteile hatte, heute auch die AfD viel Zuspruch erlangt.

Antisemitismus und rechtsextreme Einstellungen bei jungen Menschen am Weitesten verbreitet

„Der Gedanke ,Antisemitismus stirbt aus‘ ist falsch“, sagte die Sozialpsychologin. Besonders schockiert hätten die Autor:innen der Studie die Einstellungen der 18- bis 34-Jährigen, erklärt sie. Diese Altersgruppe führt in den Kategorien Verharmlosung des Nationalsozialismus mit 8,1 Prozent, Antisemitismus mit 8,6 Prozent, Sozialdarwinismus mit 10,7 Prozent, Befürwortung Diktatur mit 7,4 Prozent und Manifest rechtsextremes Weltbild mit 12,3 Prozent.

Israelbezogener Antisemitismus hat viele Gesichter…. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Rund 40 Prozent der jungen Menschen hätten ein Migrationsquote, diese junge Altersgruppe sei also ausgesprochen heterogen. „Aber offensichtlich ist es uns nicht gelungen, in die jungen Menschen Demokratie hinein zu sozialisieren“, sagte Küpper. Teil dieses Problems sei die schulische Bildung.

„Es ist erschreckend, wie wenig politische Bildung ein junger Mensch bekommt. Einer Studie zufolge maximal 4,5 Prozent Demokratiebildung im weitesten Sinne – und dazu muss man schon im richtigen Bundesland auf die richtige Schule gehen“, erläuterte Küpper. Sie vermutet, dass dabei auch die sozialen Netzwerke eine entscheidende Rolle spielen.

Aufschrei nach Deportationsplänen der AfD: Rassismus plötzlich sehr persönlich geworden

Im Anschluss an den Vortrag der Sozialpsychologin fand eine Diskussionsrunde statt, an der neben der Autorin auch der Journalist Olaf Sundermeyer, der Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Dortmund und Sicherheitsbeauftragter der Kultusgemeinden NRW Leonid Chraga und Vivianne Dörne von der Quartiersdemokraten teilnahmen. Moderiert wurde die Debatte von Nadja Lüders, Rechtsanwältin und SPD-Abgeordnete im nordrhein-westfälischen Landtag.

Nach dem Vortrag fand eine Diskussion statt. Foto: Paulina Bermúdez

„Die Correctiv-Recherche hat keine neuen Informationen zu Tage gebracht, aber eine starke gesellschaftliche Reaktion hervorgerufen. Die AfD ist eine ,Ausländer-raus-Partei‘ und das wissen wir nicht erst seit dem 10.Januar“, stellte Olaf Sundermeyer zu Beginn klar. Auch Beate Küpper zeigte sich überrascht darüber, dass sich die Großdemonstrationen an dem Thema der „Remigration“ – das die „AfD“ seit Jahren öffentlich propagiert – aufhängen. Sie vermutete: „Wir sind dann eben doch ein Einwanderungsland bis rein in die Familien. Das ist plötzlich zu etwas sehr persönlichem geworden.“

Journalist Sundermeyer machte auf die in den letzten zehn Jahren erreichten Etappen der „AfD“ aufmerksam: „Das Ziel der AfD ist es, die stärkste Partei zu werden und dazu geht sie sukzessive bundesweit vor, zunächst mit dem Einzug in den Landtag, dann in den Bundestag und ich bin mir sicher, dass sie nun in Thüringen die Landesregierung stellen wird. (…) Der Ernstfall in dem wir gerade stecken nennt sich Normalisierung und die ist in Ostdeutschland weit fortgeschritten, hat aber auch Westdeutschland ergriffen.“

Menschen in der Grauzone abholen und Demokratiefreunde wertschätzen und unterstützen

Er empfahl einen ganz offenen und respektvollen Umgang – gerade mit AfD-Wähler:innen und Menschen in der Grauzone. Man müsse ihnen zuhören, schauen, was den Menschen wichtig ist, was für Themen präsent sind, um dann in einen konstruktiven und fundierten Austausch zu kommen und andere Denkansätze anzustoßen.

Die Quartiersdemokraten unterstützen Engagement und fördern Demokratieverständnis. Foto: Thomas Engel

Dabei sei es aber ganz wichtig, dass die „rote Linie“ stets erkennbar bleibe, so Sundermeyer. Er sagte: „Was auf dem Spiel steht ist unsere Demokratie und da müssen alle, die diese menschenfeindlichen Ansichten nicht in sich tragen, gegen aufstehen!“

Vivianne Dörne fragte „Wie können wir die Menschen in ihrem Engagement unterstützen?“ und brachte einen weiteren Ansatz in die Debatte ein. Sie riet: „Wir müssen über die Menschen sprechen, die sich engagieren, das vergessen wir ganz häufig. Wir als Zivilgesellschaft müssen uns vernetzen!“

Zunehmender Antisemitismus und ausbleibende Solidarität mit Jüd:innen in Dortmund

Der Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Dortmund informierte über die große Diskrepanz zwischen der öffentlichen Solidarität mit jüdischen Menschen nach dem Angriff der Terrororganisation Hamas und dem öffentlichen Protest gegen Rechtsextremismus und die AfD.

Rund 400 Menschen erklärten sich nach den Angriffen der Hamas solidarisch mit Israel.
Rund 300 Menschen erklärten sich nach den Angriffen der Hamas solidarisch mit Israel. Foto: Karsten Wickern

Der Angriff der islamistischen Terrororganisation auf Israel stellte das größte Pogrom gegen Jüd:innen seit dem Nationalsozialismus dar, weltweit stiegen Angriffe auf jüdische Einzelpersonen und Institutionen drastisch – Hakenkreuze wurden in Deutschland an private Wohnhäuser jüdischer Menschen geschmiert.

Und trotzdem nahmen in Dortmund an einer Solidaritätskundgebung nach dem 7. Oktober nur rund 300 Personen teil, an der Großdemonstration gegen die Pläne der AfD im Januar 2024 waren es schätzungsweise 30.000 Menschen.

Leonid Chraga bemängelte auch, dass die großen Demonstrationen nicht aktiv auf den stark zunehmenden Antisemitismus eingingen, sondern man sich lediglich auf den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ – den Rechtsruck – geeinigt hätte. „Die Solidarität ist deutlich ausgeblieben. Das macht es für uns schlimmer, denn es hat einfach gezeigt, dass wir nicht wichtig genug sind für die Mitte der Gesellschaft“, sagte Leonid Chraga mit ernster Miene.

Weitere Informationen:

  • Zur Mitte Studie im PDF-Format geht es hier lang: www.fes.de

Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!

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Reader Comments

  1. Die distanzierte Mitte: Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung wird diskutiert (PM)

    Seit Jahren zeigt sich, dass die „Mitte“ der Gesellschaft verstärkt unter Druck gerät. Eine neue Studie untersucht, wie diese Distanz zu demokratischen Grundwerten wächst und welche Risiken für die Gesellschaft damit einhergehen.Ein steigendes Maß an gesellschaftlicher Unsicherheit führt zu verstärkten Spannungen und ermöglicht das Aufkeimen antidemokratischer Haltungen.

    Die Ergebnisse der aktuellen „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen diese Entwicklung eindringlich auf. Am Donnerstag, 26. September, von 18 bis 20:15 Uhr, wird diese Studie in der VHS Dortmund, Kampstraße 47, gemeinsam mit renommierten Expert*innen diskutiert. Die Veranstaltung (Nummer: 24-51418) ist kostenfrei. Anmeldungen sind hier auf der Website der VHS Dortmund möglich.

    Komplexität und Distanz

    Die „Mitte“ der Gesellschaft steht im Fokus, weil multiple Krisen, soziale Spannungen und Verteilungskämpfe die Gesellschaft zunehmend herausfordern. Die Distanz zu demokratischen Grundprinzipien wird in Teilen dieser Mitte sichtbar – eine Entwicklung, die es zu verstehen und einzuordnen gilt.

    Die Feinde der Demokratie

    Nicht alle in der Mitte stehen dieser Entwicklung hilflos gegenüber: Ein Großteil nimmt klar Stellung gegen antidemokratische Strömungen. Doch die Frage bleibt, ob diese Mitte in der Lage ist, die entstandene Distanz zu überbrücken und eine offene, pluralistische Gesellschaft zu fördern.

    Die Moderation der Diskussion übernimmt Katrin Ackermann vom Landesbüro NRW der Friedrich-Ebert-Stiftung. Eingeladen sind unter anderem Prof. Dr. Beate Küpper und Prof. Karim Fereidooni.

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