Die Nordstadtblogger haben sich entschieden, in diesem Jahr anlässlich des Weltfrauentags am 8.März eine Themenwoche zu gestalten, mit interessanten Beiträgen rund um feministische Themen. Jeden Abend erscheint ein neuer Artikel.
Mareike Wellner ist Sexualpädagogin und Systemische Sexualtherapeutin und arbeitet seit 2012 in der Dortmunder AWO Beratungsstelle für Schwangerschaftskonflikte, Familienplanung, Paar- und Lebensberatung. Im Gespräch erklärt sie, wo die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Sexualität bestehen, wie zeitgenössisch der heutige Sexualkunde-Unterricht noch ist, und wie Mensch die eigene Sexualität besser ergründen kann.
Hallo Frau Wellner, zuerst einmal möchte ich eine grundliegende Frage klären. Was ist überhaupt Sexualität?
Eine tatsächlich sehr wichtige Frage direkt zu Beginn! Woran Menschen bei den Worten „Sex“ oder „Sexualität“ denken, kann tatsächlich sehr individuell sein und zudem lassen sich unterschiedliche Definitionen der Begriffe finden. Der Sexualpädagoge Uwe Sielert bezeichnet Sexualität als „Lebensenergie, die sich des Körpers bedient, aus unterschiedlichen Quellen gespeist wird, sich vielfältig ausdrückt und wichtige Sinnfunktionen hat“.
Wenn ich Menschen frage, was „Sex“ für sie bedeutet, ist die erste Assoziation häufig der (heterosexuelle) Geschlechtsverkehr. Ich rege dann gerne dazu an, den Begriff „Sex“ gedanklich deutlich zu erweitern: Um alles, was einvernehmlich Lust und Erregung auslösen kann und was sich mit dem eigenen und mit anderen Körpern sinnlich anstellen lässt. Auf diese Art und Weise wird das sexuelle Repertoire einer Person auf einmal viel größer.
Derzeit wird häufig – auch medial – von einer „gender orgasm gap“ gesprochen. Was ist das und gibt es sie überhaupt?
Das scheint so zu sein: Bei Menschen in heterosexuellen Paarbeziehungen zeichnet sich in mehreren Studien eine recht deutliche Orgasmuslücke ab. Laut Forschung erleben Männer signifikant häufiger einen Orgasmus als ihre Partnerinnen. In homosexuellen Partnerschaften zeigt sich hingegen ein anderes Bild: Beim gleichgeschlechtlichen Sex scheinen Frauen deutlich häufiger Orgasmen zu haben als beim Sex mit Männern. ___STEADY_PAYWALL___
Wo bestehen Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Sexualität und wieso bestehen sie?
Den Blick auf die Gemeinsamkeiten finde ich noch spannender und möchte ihn daher vorne anstellen: Vielen ist nämlich nicht bekannt, dass alle Menschen sogenannte „homologe“ Geschlechtsorgane haben. Das bedeutet, dass Penis und Klitoris aus derselben embryonalen Anlage hervorgehen und bei Erregung daher auch gleich funktionieren. Die Schwellkörper beider Organe werden durchblutet und schwellen deutlich an. Dadurch, dass die Klitoris zum Großteil im Inneren des Körpers liegt, ist diese Gemeinsamkeit allerdings nicht so sichtbar und bekannt. Lust und Erregung funktionieren bei verschiedenen Geschlechtern also nicht so anders wie manchmal angenommen.
Einen Unterschied zwischen allen Geschlechtern macht aber mit Sicherheit die gesellschaftliche Prägung aus. Stereotype Rollenklischees, medial immer wieder reproduziert, beeinflussen meines Erachtens definitiv unser aller Sexualleben und führen dazu, dass sich z. B. ein Thema wie Solosexualität (= Selbstbefriedigung) auch heutzutage in Schulprojekten mit Jungen tendenziell einfacher und weniger schambehaftet besprechen lässt als mit Mädchen. Beim Aufweichen der Rollenbilder sehe ich noch viel Luft nach oben und darin gleichzeitig auch eine große Chance für die individuelle sexuelle Entwicklung.
Viele Jugendliche haben heutzutage ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit Pornografie. Was macht das mit unserem Verständnis von Frauenbildern und weiblicher Lust?
Eine spannende Frage, die leider nicht leicht zu beantworten ist. Die Forschung zur Wirkung von Pornografie im Jugendalter gestaltet sich sehr schwierig, unter anderem, weil es hier um Minderjährige geht und pornografische Inhalte aber dem Jugendschutz unterliegen. Interessant ist das Thema jedoch allemal, weswegen der Arbeitskreis Sexualpädagogik der AWO NRW zusammen mit der Professorin Nicola Döring von der TU Ilmenau aktuell an Schulen hierzu forscht. Auf die Ergebnisse bin ich sehr gespannt.
Laut ZDF- Informationen schätzen Expert:innen, dass es in Deutschland mittlerweile circa eine halbe Million pornosüchtige Menschen gibt. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Meine persönliche Einschätzung ist, dass das Entstehen einer wirklichen „Pornosucht“ mit großem Leidensdruck der Betroffenen seltener der Fall ist, dass aber dauerhafter Pornokonsum durchaus einen Einfluss auf die sexuelle Entwicklung hat. Manche Menschen berichten z. B., dass sie auf Dauer immer „härtere“ Pornografie konsumieren müssen, um noch erregt zu werden. Und je nachdem über welche Art von Pornos wir sprechen, werden natürlich auch in ihnen wieder stereotype Rollenbilder aufrechterhalten – meistens eher zum Nachteil für die weibliche Lust.
Jugendliche verbringen den Großteil ihrer Zeit in der Schule. Ist der heutige Sexualkundeunterricht in den Schulen noch zeitgenössisch?
Das hängt total von der individuellen Motivation der Lehrpersonen ab. An manchen Schulen erlebe ich Menschen, denen das Thema sehr wichtig ist, die sich an den Lehrplan halten und zumindest in Unter- und Mittelstufe Sexualkunde im Biounterricht behandeln sowie zusätzliche Projekte mit externen Sexualpädagog*innen organisieren.
An anderen Schulen erzählen mir Neuntklässler:innen, dass sie seit der Grundschule das Thema nie wieder schulisch behandelt haben. Mein Eindruck ist, dass die Sexuelle Bildung in der Lehramtsausbildung keinen Raum findet und viele Lehrpersonen sich scheuen, mit ihren Klassen über Sex zu sprechen. In mancherlei Hinsicht kann ich das sogar nachvollziehen – es lässt sich drüber streiten, ob die Person, die die jungen Menschen benoten muss, die passende Ansprechperson für Fragen rund um Sexualität ist.
Gleichzeitig ist die Schule der einzige Ort, an dem fast alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden können und daher gehört für mich Sexuelle Bildung unbedingt an die Schulen. Idealerweise ergänzt durch regelmäßige Projekte mit externen Fachkräften, die auch Brücken zu verschiedenen Beratungseinrichtungen in der Stadt bauen können.
Was müsste man tun, damit Jugendliche wirklich über Sexualität aufgeklärt werden?
Wenn wir beim System Schule bleiben: Regelmäßig wiederkehrende altersgerechte Unterrichtseinheiten zur Sexuellen Bildung, am besten fächerübergreifend, damit der Unterricht den verschiedenen Dimensionen von Sexualität gerecht werden kann.
Es nur im Biounterricht zu behandeln, beschränkt das Thema meines Erachtens zu sehr auf seine biologischen Aspekte. Sexuelle Bildung ist unheimlich vielfältig und würde sicherlich sogar ausreichend Stoff für ein eigenes Schulfach bieten. Die Fortbildung von Fachkräften an Schulen sowie die Finanzierung von externen Bildungsangeboten müssten hierfür stark ausgebaut werden.
Der Dortmunder Arbeitskreis Sexuelle Bildung hat kürzlich ein Impulspapier veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass die sexualpädagogische Bildungsarbeit in Dortmund stark unterfinanziert ist und ihren Bedarfen somit nicht gerecht werden kann. Es muss sich also dringend etwas tun – auch im Hinblick auf den Schutz von jungen Menschen vor sexualisierter Gewalt, da Sexuelle Bildung hierfür einen wichtigen Präventionspfeiler darstellt.
Haben Sie Tipps für Frauen, wie sie ihre eigene Lust und Sexualität entdecken oder besser kennenlernen können?
Meine Erfahrung ist, dass Wissen über körperliche, psychische und gesellschaftliche Zusammenhänge rund um Sexualität Menschen unheimlich empowern kann. Es gibt mittlerweile wirklich viele informative Podcasts, tolle Literatur und auch gut recherchierte social media-Beiträge. Daher ist mein erster Tipp: Macht euch schlau! Und: Sprecht darüber! Mit Partnerpersonen, mit Freund:innen oder auch mit Fremden – z. B. in Angeboten der Sexuellen Bildung für Erwachsene.
Gemeinsam mit der Dortmunder aidshilfe habe ich schon mehrfach Workshops für Frauen und nichtbinäre Personen angeboten und das Fazit war immer das gleiche: Es kann entlastend, spannend und anregend sein, sich über sexuelle Themen auszutauschen. In mehreren deutschen Großstädten gibt es außerdem queer-feministische Sexshops, die neben einem vielfältigen Angebot und kompetenter Beratung häufig auch Bildungsangebote von „Konsens“ bis „Dirty Talk“ machen.
Welche Beratungsangebote bieten Sie selbst als Sexualpädagogin an?
Das Angebot unserer Beratungsstelle richtet sich zum Großteil an Menschen, die sich in einer Lebensphase befinden, in der das Thema Familienplanung eine Rolle spielt. Bei (unerfülltem) Kinderwunsch, während einer Schwangerschaft und nach der Geburt bis zum 3. Lebensjahr eines Kindes haben alle Personen einen Anspruch auf Beratung.
Aber auch Menschen, die Beratung rund ums Thema Sexualität in Anspruch nehmen möchten oder die eine Schwangerschaft vermeiden oder abbrechen lassen wollen, gehören zu unserer Zielgruppe. Die möglichen Themen und Beratungsanliegen sind hierbei zahlreich. Darüber hinaus bieten wir auch Paar- und Lebensberatung für Personen in anderen Lebensphasen an.
Neben der Sexuellen Bildung ist die Sexualberatung ein Schwerpunkt von mir. Ob Lustlosigkeit, Schmerzen beim Sex oder Orgasmusschwierigkeiten – auch hier ist die Themenpalette vielfältig. Für alle Angebote gilt: Wir beraten kostenlos auf freiwilliger Spendenbasis und unterliegen der Schweigepflicht.
Weitere Informationen:
- Zur AWO-Beratungsstelle geht es hier lang: www.awo-dortmund.de
- Zum Impulspapier des Dortmunder Arbeitskreises Sexuelle Bildung geht es hier lang: www.impulspapier.de
Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!
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