Von Clemens Schröer (Text) und Helmuth Vossgraff (Fotos)
Mehr als vier Jahre dauert er nun schon, der Bürgerkrieg in Syrien. Die anfangs scheinbar recht klare Frontenlage – hier der Diktator Assad, dort die Freiheitsbewegungen des arabischen Frühlings -, ist einer neuen Unübersichtlichkeit gewichen, soweit nicht schon der „Islamische Staat“ (IS) mit seinen terroristischen Massakern an Andersgläubigen, Kulturfreveln und Welteroberungsphantasien in den westlichen Augen die Rolle des „Bösen“ übernommen hat. Ein Ende der blutigen Wirren, so etwas wie Frieden gar, scheint nicht in Sicht.
Desaströse Lage der Zivilbevölkerung in Syrien
Die desaströse Lage der Zivilbevölkerung, der dringende Bedarf ihr zu helfen, gerät dabei zunehmend aus dem Blick, wie nicht zuletzt das abnehmende Spendenaufkommen trotz stetig steigender Not zeigt.
Um dem entgegenzuwirken, hatte die Hilfsorganisation „Deutsch-Syrische Ärzte für humanitäre Hilfe e.V.“ (DSÄ) zu einer Konferenz in die Räume der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe in Dortmund geladen.
Unter der Schirmherrschaft des Dortmunder Oberbürgermeisters Ullrich Sierau berichteten und diskutierten mehr als 200 Mediziner, Leiter von Hilfsorganisationen, Politiker und Medienvertreter zum Thema: „Die Gesundheitsversorgung in Syrien – eine Katastrophe. Was kann heute noch getan werden?“
Zahlen des Schreckens
Filme und Vorträge lieferten die Zahlen des Schreckens: Der Bürgerkrieg forderte mindestens 200.000 Tote, eine Millionen Verletzte. Das sind sechs Prozent der syrischen Bevölkerung, wie Larissa Bender, die Moderatorin der Veranstaltung berichtete. 250.000 Menschen sind so stark verletzt, dass sie eine Prothese brauchen.
Viele chronisch Kranke bekommen ihre Medikamente nicht. Generell hapert es schon an der medizinischen Grundversorgung. Vier von fünf Syrern leben in extremer Armut, die Hälfte der Kinder geht kriegsbedingt nicht zur Schule. Es gibt in Syrien 12 Millionen Menschen, die auf tägliche Hilfe angewiesen sind, davon 4,8 Millionen Hilfsbedürftige in „schwer zugänglichen Regionen“, die kaum Hilfe erreicht.
Die durchschnittliche Lebenserwartung ist um zwei Jahrzehnte auf nur noch 55 Jahre gesunken. Vier Millionen Syrer flohen ins Ausland, überwiegend in die überlasteten Anrainerstaaten Jordanien, Libanon und die Türkei, weitere sieben Millionen sind im Land selbst auf der Flucht. „Ein Drittel der Bevölkerung hat seine angestammte Heimat verloren“, bilanzierte Bärbel Dieckmann, die Präsidentin der Welthungerhilfe.
Gezielt zerstört v.a. Assad die medizinische Infrastruktur und lässt Ärzte ermorden
Dazu kommt, dass IS und vor allem das Assad-Regime gezielt die medizinische Infrastruktur zerstören, 60 % der Krankenhäuser sind derweil kaputtbombardiert, gezielt werden Ärzte und anderes medizinisches Personal getötet oder zur Flucht gezwungen.
Dies machte Dr. Ammar Zakaria am Beispiel seiner Heimatstadt Aleppo deutlich. Er hatte selbst dort lange ausgeharrt, in 18-Stunden-Schichten in einem unterirdischen Nothospital medizinische Hilfe geleistet und unter anderem auch dem ehemaligen Nahost-Korrespondenten der ARD, Jörg Armbruster, nach einer Schussverletzung das Leben gerettet.
Für seine Arbeit als Arzt und Friedensaktivist wurde Zakaria 2013 in Köln mit dem „Lew Kopelew Preis für Frieden und Menschenrechte“ ausgezeichnet. Aber er und seine Familie waren mit dem Tode bedroht und mussten fliehen. Jetzt leben sie in Dortmund. Nur 23 Mediziner, von ehemals 2.500, gibt es noch in der heftig umkämpften Millionenstadt.
Nicht nur materielle und physische, auch psychische Verheerungen
Der Psychiater und Neurologe Prof. Dr. Malek Bajbouj von der Berliner Charité machte in seinem kurzen Vortrag auf einen Aspekt aufmerksam, der angesichts der augenfälligen Zerstörungen, Tötungen und körperlichen Verletzungen oftmals übersehen wird, nämlich die verheerenden psychischen Kriegsfolgen.
Die extremen Gewalterfahrungen bewirkten bei einem Viertel der Betroffenen schwerste Traumafolgeerkrankungen wie Verhaltensstörungen, Hirnstrukturveränderungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die sich auch in epigenetischen Erbgutveränderungen niederschlügen. Es geht um über eine Millionen Traumatisierte, und nur ein verschwindend kleiner Teil erhalte die existentiell notwendige Hilfe.
Dazu komme, dass 71 Prozent seiner Patienten, die er in Berlin behandeln konnte, momentan nicht versöhnungsbereit seien, was wohl repräsentativ sein dürfte und ein gedeihliches Zusammenleben der heute verfeindeten Bevölkerungsgruppen in Zukunft ungeheuer erschwere.
Was tun gegen die „größte humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts“?
Die Vereinten Nationen nennen die Notlage in Syrien „die größte Katastrophe des 21. Jahrhunderts“, Bärbel Dieckmann von der Welthungerhilfe fühlt sich an Deutschland 1945 erinnert. Angesichts dieser desaströsen Bestandsaufnahme wurden auf den verschiedensten Ebenen Lösungsversuche diskutiert.
Der Schwerpunkt lag auf der DSÄ-Konferenz natürlich auf dem Bereich direkter humanitärer, medizinischer und infrastruktureller Hilfe. Aber auch die europäische und deutsche Flüchtlingspolitik sowie die politischen Zukunftsperspektiven für das geschundene Syrien und die Region gerieten in den Focus.
Der Kardiologe Dr. Riad El Kassar holt mit DSÄ immer wieder Schwerverletzte nach Deutschland, aber die Zahl ist zu gering. Deshalb fordert er Geld und weitere Unterstützung für die lokalen Initiativen in Syrien.
Ein zentrale Aufgabe sieht er darin, den Zusammenbruch der medizinischen Versorgung, die gezielten Tötungen und den Exodus der Mediziner zu stoppen: „Wer einen Arzt tötet, hat 1.000 weitere Menschen verletzt – wer einen Arzt rettet, hat 1.000 weiteren Menschen geholfen.“
Dem stimmte auch Dr. Tankred Stöbe zu, Präsident der deutschen Sektion der „Ärzte ohne Grenzen“. Er kann in seinen kriegschirurgischen Notfallkliniken kein internationales Personal mehr einsetzen, nachdem im Januar 2013 fünf seiner Mitarbeiter entführt worden waren.
Direkte humanitäre, medizinische und infrastrukturelle Hilfe – auf staatliche Unterstützung und private Spenden angewiesen
Aber die „Ärzte ohne Grenzen“ unterstützen weiterhin tatkräftig die einheimischen Mediziner vor Ort. Ute Hoffmann von „aktion medeor“ unterstützt 16 Krankenhäuser in Syrien und arbeitet dort mit der Hilfsorganisation „Orient“ zusammen.
Sie wünscht, dass die Türkei ihre restriktive Zulassungspolitik für NGOs (Nichtregierungsorganisationen) ändern möge, damit ihre Hilfsorganisation in den Flüchtlingslagern auf dem Boden der Türkei besser arbeiten kann.
Bärbel Dieckmann von der Welthungerhilfe liefert ebenfalls Nahrung und Medikamente und würde gern mehr für die Kinder in den Flüchtlingslagern tun. Aber sie beklagt ein zu geringes Spendenaufkommen im reichen Deutschland. Wegen der unübersichtlichen Frontlage im Bürgerkrieg sei zwar an eine langfristige Aufbauhilfe derzeit nicht zu denken, wie sie von den potentiellen Spendern gewünscht werde. Aber, so Dieckmann, das dürfe nicht zulasten der Kriegsopfer gehen, die auf elementarste Notfallhilfe angewiesen seien.
Ein Gedanke, den Prof. Bajbouj unterstrich. Denn diese Notfallhilfe habe stabilisierende Wirkung und ermögliche es überhaupt erst, dass Syrien in die Lage kommen könne, an einen Wiederaufbau nach dem Ende des Bürgerkrieges zu denken.
Diese Erfahrung machte er auch im Libanon, wo er mit einheimischen Psychiatern zusammenarbeitete. Er lernte, dass die Flüchtlinge in solch extremen Situationen nicht ausgefeilte Langzeittherapien benötigten, sondern kleine Hilfsaktionen bereits Wunder wirkten.
Europäische, deutsche und lokale Flüchtlingspolitik
Von den vier Millionen Syrern, die wegen des Bürgerkrieges ins Ausland fliehen mussten, hat Europa gerade einmal 200.000 aufgenommen. Also ca. fünf Prozent, wie der ehemalige Nahost-Korrespondent der ARD, Jörg Armbruster, vorrechnete.
Die Hauptlast tragen die Anrainerstaaten Jordanien, Libanon und die Türkei. Sie müssten viel stärker unterstützt und entlastet werden, forderte der Journalist, zumal die Konflikte zwischen Einheimischen und Flüchtlingen dort zunähmen und die fragilen Staaten zusätzlich destabilisierten. Doch stattdessen schotte sich Europa im Zuge von Dublin II immer stärker ab.
Die Regelung, dass jeweils das Land zuständig ist, über das der Asylbewerber in die EU eingereist ist, führe etwa bei den Syrern dazu, dass sie häufig nach Bulgarien zurückgeschickt würden, wo sie oft zuvor wegen illegalen Grenzübertritts im Gefängnis gesessen hätten und nicht selten misshandelt worden seien.
Europa betreibe eine hartherzige und kurzsichtige Flüchtlingsabwehrpolitik, wo nicht nur die eigenen humanitären Werte, sondern auch kluge Realpolitik doch das genaue Gegenteil geböten. Besonders empörte sich Armbruster über die Auffanglager in Nordafrika, die die EU gerade in Zusammenarbeit mit den dortigen Staaten errichten lasse.
Dublin II belaste EU-Grenzstaaten wie etwa Spanien, Italien und Griechenland und entlaste Binnenländer, wie etwa Deutschland, dass man als Erstland praktisch nur noch mit dem Flugzeug erreichen könne. Auch hier müsse es binneneuropäisch einen gerechten Ausgleich bei der Flüchtlingsaufnahme geben.
Appell: Das starke Deutschland muss mehr für syrische Flüchtlinge machen
Und dabei sei vor allem das mächtige Deutschland gefragt. Zwar habe die Bundesrepublik 80.000 geflüchtete Syrer aufgenommen, im EU-Vergleich nicht wenig. Großbritannien verhalte sich mit gerade einmal 90 syrischen Flüchtlingen bis Ende 2014 demgegenüber besonders schändlich, und dies als ehemalige syrische Kolonialmacht.
Aber die deutsche Zahl relativiere sich doch ganz erheblich, wenn man den Blick auf das kleine Jordanien richte, wo die Zahl der Flüchtlinge aktuell bereits ein Sechstel der Gesamtbevölkerung ausmache. Auf Deutschland übertragen, so Armbruster, bedeute das die Aufnahme von 13 Millionen Menschen!
Für die Flüchtlingspolitik in Deutschland selbst forderten die Rednerinnen und Redner, dem schwedischen Beispiel zu folgen. Also den syrischen Flüchtlingen sofort Bleiberecht und Arbeitserlaubnis zu gewähren sowie auf bürokratische Schikanen bei der Gesundheitsversorgung der oftmals physisch und psychisch schwer Geschädigten zu verzichten.
Auch profitiere die Bundesrepublik von den syrischen Flüchtlingen, hätten in der Regel doch nur gut ausgebildete und finanziell besser gestellte Angehörige der Mittel- und Oberschicht die Möglichkeiten, bis nach Europa zu gelangen.
Vermutlich haben DSÄ, Armbruster und die anderen Hilfsorganisationen im Dortmunder Oberbürgermeister einen Mitstreiter gefunden, wissen Kommunalpolitiker doch oft besser, wo der Schuh wirklich drückt.
Denn Ullrich Sierau lobte das humanitäre Engagement der Syrienfreunde und das Wirken der Ärzte in Syrien und Dortmund als vorbildliche Erfüllung ihres Hippokratischen Eides. Er wusste zu berichten, dass DSÄ-Vertreter zweimal wöchentlich in der zentralen Erstaufnahmeeinrichtung in Hacheney (EAE) unentgeltlich ärztliche Hilfe leisten und hieß Dr. Zakaria, die „Stimme Aleppos“, stellvertretend für seine Landsleute, herzlich in seiner Stadt willkommen.
Von den 800 syrischen Flüchtlingen, die von Juli 2014 bis Februar 2015 in die EAE Hacheney gekommen waren, sind 260 bis 270 in Dortmund geblieben. Sierau sicherte den Menschen in seinem Grußwort zu, mit ihnen „gemeinsam für ein friedliches und freies Syrien“ zu arbeiten.
So etwas wie Frieden – „und wenn man mit dem Teufel verhandeln muss“
Um die Verwirklichung dieser Vision eines freien und friedlichen Syriens geht es, da war man sich einig. Damit kam die große Politik ins Spiel. Denn die konkrete humanitäre Hilfe stößt im blutigen Bürgerkrieg schnell an ihre Grenzen, so unbedingt nötig sie auch ist und soviel Gutes sie auch bewirkt.
Nahost-Experte Jörg Armbruster und Bärbel Dieckmann, die ehemalige Bonner Oberbürgermeisterin und jetzige Chefin der Welthungerhilfe stießen diese Diskussion an. Aber einen Masterplan hatte keiner der Diskutanten in der Tasche.
Mit einem Einfrieren des Konflikts müsse man erstmal schon zufrieden sein, da ein Flächenbrand weit über Syrien hinaus drohe, meinte Armbruster, – „und wenn man dafür mit dem Teufel verhandeln muss“ – gemeint ist Assad.
Doch unter den syrischen Diskutanten erntete er damit teils erbitterten Widerspruch, Zeichen, wie tief der Groll auf den blutigen syrischen Diktator sitzt. Hat also Professor Bajbouj recht, der die fehlende Versöhnungsbereitschaft der Syrer aller Lager konstatiert und auch deshalb vor einer „verlorenen Generation“ warnt?
Man könnte verzweifeln, wenn nicht derselbe Diagnostiker und Therapeut seine Hoffnung in die kleinen Schritte der humanitären Notfallhilfe setzen und für die Zukunft auf die Kräfte einer uralten Hochkultur und die vielen gut ausgebildeten Syrerinnen und Syrer vertrauen würde.
Spendenkonto:
Das Spendenkonto des Vereins deutsch-syrischer Ärzte (DSÄ) bei der Deutschen Bank Dortmund lautet (IBAN): DE90 4407 0024 0109 8813 00.
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Vortrag über die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen (PM „DieWirDir“-Gruppe Mengede)
Die „DieWirDir“-Gruppe ist eine Initiative von 14 Frauen aus Dortmund-Mengede, die sich 2021 aus privater Initiative zusammenfand, um den Kontakt während der Corona-Pandemie zu halten. Daraus entwickelte sich ein Tauschhandel gegen Spenden, der nun dreimal bei Nikolausaktionen auf dem Mengeder Adventsmarkt und zuletzt beim Emscherhoffest stattfand.
Ihr Ziel ist es, Spenden für verschiedene soziale Organisationen und Anliegen zu sammeln, darunter die Mitternachtsmission, die Böselager Stiftung und Ärzte ohne Grenzen. Da der Großteil der Spenden in den letzten drei Jahren an Ärzte ohne Grenzen ging, haben sie nun einen Mitarbeiter eingeladen, der von seiner Arbeit als Kinderarzt in weltweiten Hilfsprojekten, unter anderem in Afghanistan und im Südsudan, berichtet.
Dr. Nicolas Aschoff von „Ärzte ohne Grenzen“ wird am Mittwoch, den 17. Juli 2024, um 18 Uhr im Restaurant Burghof, Mengeder Straße 687, in Mengede zu Gast sein und berichten. Der Eintritt ist frei. Bei Fragen zur Gruppe oder zur Veranstaltung ist die Initiative unter diewirdie@web.de erreichbar.