Bis heute fordern Angehörige und Freunde erfolglos Aufklärung

„Black Lives Matter“? – Vor zehn Jahren starb Ousman Sey in Dortmund im Polizeigewahrsam

Unter dem Schlagwort „Black Lives Matter“ demonstrierten nach dem Mord an George Floyd allein in Dortmund rund 5000 (!) Menschen und setzten ein eindrucksvolles Zeichen. Foto: Karsten Wickern für Nordstadtblogger.de

Der Mord an George Floyd durch einen Polizisten löste weltweite Proteste aus. Unter dem Schlagwort „Black Lives Matter“ gingen in vielen Ländern Menschen auf die Straße – auch in Deutschland. Allein in Dortmund demonstrierten rund 5000 (!) Menschen und setzten ein eindrucksvolles Zeichen. Doch Rassismus und Polizeigewalt gibt es auch in Deutschland. Für Aufklärung dieser Fälle setzt sich die Initiative „Death in Custody“ ein. Ein Fall aus Dortmund ist ebenfalls dabei. Auf den Tag genau vor zehn Jahren starb Ousman Sey im Polizeigewahrsam. 

Initiative listet 159 Todesfälle Nicht-Weißer in und durch Polizeigewalt auf

Die Liste der Toten ist lang. 159 Fälle seit 1990 führt die Initiative auf (Link am Ende). Doch im Vergleich zu anderen Gewalttaten sind die Todesfälle Nicht-Weißer in und durch Polizeigewalt, die sich über ganz Deutschland verteilen, vergleichsweise unbekannt. Einer von ihnen ist der Schwarzafrikaner Ousman Sey. 

Wolfgang Richter
Prof. Wolfgang Richter Archivbild: Alex Völkel

„Er starb in der Folge einer unglaublichen Odyssee im Polizeipräsidium am 7. Juli 2012 in Dortmund“, findet Prof. Wolfgang Richter – damals im Linken Bündnis Dortmund aktiv -, der Jahr für Jahr an die Tat erinnert. 

Ousman Sey, ein 45-jähriger Mann aus Gambia war krank und suchte ärztliche Hilfe. Er lebte in der Nordstadt, nicht weit vom Klinikum-Nord. Die Umstände sind – rückblickend – nebulös. So soll Ousman Sey zweimal um Hilfe gerufen haben, aber der Rettungsdienst soll jedesmal keine Notlage erkannt haben. „Du musst nur ruhig liegenbleiben“, soll man ihm geantwortet haben. 

„Als sie ihn nicht in die Klinik brachten, erfasste ihn Panik. Jetzt griff die Bereitschaftspolizei ein und transportierte den Mann, gefesselt, ins Präsidium auf der anderen Seite der Stadt. Bevor dort ein Polizeiarzt eintraf, war der Mann zusammengebrochen“, schildert Wolfgang Richter die Vorkommnisse. 

Ein Kardiologe meldete Zweifel am Handeln des Rettungsdienstes an

„Von Rassismus kann natürlich keine Rede sein – jedem anderen wäre es genauso ergangen. Man wird alles genau untersuchen“, hieß es am Folgetag von Polizei und Rettungsdienst. Die 250 Menschen, die nach dem Tod des Afrikaners im Polizeigewahrsam demonstrierten, hatten da ihre Zweifel. Bei der Demo wurde auch eine Erklärung von Prof. Dr. med. Lemke, Direktor der Kardiologie an den Märkischen Kliniken Lüdenscheid, zum Fall Ousman Sey verlesen.

Ousman Sey, ein 45-jähriger Mann aus Gambia, starb in Dortmund im Polizeigewahrsam. 
Ousman Sey, ein 45-jähriger Mann aus Gambia, starb in Dortmund im Polizeigewahrsam. Foto: privat

„Der plötzliche Tod des Dortmunder Ousman Sey muss uneingeschränkt aufgeklärt werden. Im Gegensatz zur Aussage des Feuerwehr-Chefs Dirk Aschenbrenner gehört es hoffentlich nicht zum Standard der Dortmunder Feuerwehr, bei festgestelltem Herzrasen den Patienten in der Wohnung zu belassen bzw. von der Polizei in Gewahrsam nehmen zu lassen“, so Lemke.

Herzrasen sei immer als bedrohliches Symptom zu werten. Die Unterscheidung zwischen gefährlichem und ungefährlichem Herzrasen könne letztlich nur nach ärztlicher Untersuchung getroffen werden; auch der Umstand, ob das Herzrasen nicht Ausdruck einer bedrohlichen Erkrankung sei.

„Da die Notruf-Protokolle vorliegen und bei dem Patienten ein EKG geschrieben wurde, wird sich der Sachverhalt zügig aufklären lassen. Es macht auf jeden Fall betroffen, dass ein hilfesuchender Dortmunder zweimal den Rettungsdienst alarmiert, um dann im Polizeigewahrsam zu versterben“, heißt es in der Erklärung weiter, die Lokaljournalistin Antje Geiß für den Lokalkompass protokolliert hatte.

Staatsanwaltschaft beendet nach neun Monaten die Ermittlungen ergebnislos

Neun Monate später schloss die Staatsanwaltschaft die Akten: „Es kann nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden, dass der Todeseintritt bei unverzüglicher Behandlung durch die Rettungssanitäter vermeidbar gewesen wäre.“ Auch die Rolle der Polizei bei diesem Todeseintritt konnte nicht mit hinreichender Sicherheit ermittelt werden.

Auch zehn Jahre nach dem Tod gibt es mehr Fragen als Antworten.
Auch zehn Jahre nach dem Tod gibt es mehr Fragen als Antworten. Foto: Screenshot Twitter

„So unterblieb die Aufklärung über die skandalöse ,Verbringung’ eines Farbigen in den Tod. In der Lokalpresse wurde aus dem Getöteten noch ‚ein gambischer Randalierer‘. Von Rassismus konnte wirklich keine Rede sein“, bleibt Wolfgang Richter auch zehn Jahre nach dem Tod nicht mehr als beißende Ironie und Zynismus. Für ihn – und nicht nur für ihn – sind viele Fragen offen. 

„Warum starb Ousman Sey vor 10 Jahren in Dortmund? Warum wurden einem Menschen, der ärztliche Hilfe benötigte, Handschellen angelegt? Warum wurde Sey nicht in ärztliche Behandlung gebracht? Warum hat es keine juristischen Konsequenzen gegeben? #keinVergessen #Rassismus #Aufklärung“ schreibt beispielsweise die Gruppe „erinnern verändern dortmund“ bei Twitter. 

Auch das Bündnis „Tag der Solidarität“ erinnert an den Todestag – und daran, dass Angehörige und Freunde „unterlassende Hilfeleistung aufgrund rassistischer Vorurteile“ als Grund dafür annehmen. „Zehn Jahre keine Aufklärung, keine Konsequenzen“, schreiben sie.

Mittlerweile gibt es noch nicht einmal mehr Akten zu den Untersuchungen

Staatsanwaltschaft Dortmund
Eine neuerliche Untersuchung ist nicht mehr zu erwarten – bei der Staatsanwaltschaft liegen keine Akten mehr vor. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Mehr als Vermutungen bleiben ihnen nicht. Denn auch die Nachfragen von Nordstadtblogger beim NRW-Innenministerium und bei der Staatsanwaltschaft in Dortmund laufen ins Leere. Obwohl man in Düsseldorf mittlerweile verstärkt rechtsextreme Vorfälle untersucht und auf Anweisung von Innenminister Reul zahlreiche Urteile auf eine politische Motivation hin untersucht, was in den Urteilen bisher verneint wurde, ist der Fall Ousman Sey dort keiner. 

Das Innenministerium verweist auf die zuständige Staatsanwaltschaft in Dortmund. Doch dort kann man auf Nachfrage von Nordstadtblogger, ob der Fall vielleicht im Zuge der ebenso massiven wie berechtigten Kritik der „Black Lives Matter“-Bewegung neu untersucht wurde oder wird, nur mir einem Kopfschütteln reagieren. Dort ist der Fall nicht einmal mehr aktenkundig. 

Da das Verfahren vor mehr als neun Jahren geschlossen wurde, ist es mittlerweile – offenbar aus Gründen des Datenschutzes – gelöscht worden. Die Akten sind nicht mehr verfügbar – damit auch keine Ansätze für eine neue Untersuchung. Zudem seien – sollten sich wirklich noch Verfehlungen wie unterlassene Hilfeleistung finden – diese mittlerweile verjährt. 

LINK zu „Todesfälle in Gewahrsam“:  deathincustody.noblogs.org/

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Gastkommentar von Prof. Wolfgang Richter:

Ousman Sey als Mensch symbolisierte perfekt ‚den Anderen‘. Der weckte gleich mehrere Ansätze im komplexen Sumpf des Rassismus: Er war ein Schwarzer. Er war ein Sozialfall. Er war krank, wohl auch alkoholkrank. Er verlangte ein Recht. Er war unbequem. Erfahrene Hilfs- und Ordnungskräfte häten das umstandslos erkennen und solide einordnen können – aber rassistisch mobilisiert handelten sie verhängnisvoll, übrigens nicht vereinzelt und womöglich überfordert, sondern in professionell kompetenten Teams.

Ihre strukturellen Schutzschirme in den Ämtern agierten wie selbstverständlich auch rassistisch. Sowohl die staatlichen Aufsichten und Leitungen als auch die Justiz – die ersten verkündeten sofort umstandslos „da ist kein Rassismus, nirgends“ und die zweite stellte in der Folge mit teils hanebüchenen Begründungen alle Verfahren ein. Auch Medien passten sich mehrheitlich dem rassistischen Sprachgebrauch an und spitzten ihn Beifall heischend noch zu.

1: 8 Minuten und 46 Sekunden lang knieten die Demonstrant*innen in Gedenken an George Floyd. 2:
„I can’t breath“: Acht Minuten und 46 Sekunden lang knieten die Demonstrant*innen in Gedenken an George Floyd. Foto: Mariana Bittermann

Die Verweigerung von Hilfe gegenüber ‚Anderen‘, die ethnisch fremd sind, die in Armut leben, die politisch nicht passen, die unbequem sind, ist ein einverständig geübtes Handlungsmuster. Die Verpflichtung zur Hilfe zum Beispiel nach § 323c Strafgesetzbuch (Unterlassene Hilfeleistung) ist so strukturell außer Kraft gesetzt.

Die beteiligten professionellen Helfer*innen und ihre Führungen handelten hier mehrfach falsch mit letztlich tödlicher Folge und deckten sich gegenseitig. Wichtig wäre zu fragen, welche Schlussfolgerungen für Ausstattung und Handeln professioneller Hilfe hieraus gezogen wurden.

Auf spektakuläre Weise – man schaue in den Stadtplan und zeichne die Fahrtstrecken nach – wurde Ousman Sey am 7. Juli 2012 zu Tode gebracht. Sein Tod im Polizeigewahrsam reiht sich in eine lang gewordene Reihe von ‚Einzelfällen‘ ein. Es bleibt, dass sein Tod dazu beitrug, strukturellen Rassismus im gesellschaftlichen System differenziert zu erkennen, ihn klassenanalytisch zu analysieren und Grundlagen dazu zu schaffen, ihn auf lange Sicht zurückzudrängen.

Der alte und neue Innenminister des Landes hat begonnen, am Beispiel der rechtsterroristischen Überfälle, Tötungen, Morde seine jahrelang unzureichende Arbeit zu überprüfen. Sie zu bessern, muss den alltäglichen Rassismus erkennen und bekämpfen, auch und gerade den unter seinem Schutzschirm.

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