Eine deutliche gerichtliche Klatsche für die Stadt Dortmund hat heute (25. Januar 2022) im Sozialausschuss ein politisches Nachspiel. Die Vertreter:innen mehrerer Parteien wollen wissen, wieso die Stadt Erzwingungshaft zur Durchsetzung von Geldstrafen gegen einen Obdachlosen verhängen lassen wollte, die dieser u.a. wegen Bettelns bekommen hatte – und nicht bezahlen konnte. Die Reaktionen aus der Zivilgesellschaft waren und sind heftig – und die Politik will, dass sich die Stadtverwaltung nun erklärt.
Erzwingungshaft bezieht sich auf Zahlungsunwillige, nicht Zahlungsunfähige
Der Beschluss des Amtsgerichts Dortmund im Dezember 2021 war eine schallende Ohrfeige für die Stadt: Denn Sinn und Zweck der Erzwingungshaft sei es, einen Zahlungsunwilligen – nicht Zahlungsunfähigen! – zur Zahlung einer Geldbuße zu zwingen, heißt es im schriftlichen Beschluss des Amtsgerichts Dortmund.
Die Stadt wollte eine Erzwingungshaft gegen einen Obdachlosen durchsetzen, der u.a. mehrfach gegen die Corona-Schutzverordnung verstoßen hatte. Insgesamt siebzehn Mal wurden Bußgelder gegen den Betroffenen verhängt, die von 25 Euro bis zu enormen 2.200 Euro reichten. Insgesamt kam so im Laufe eines Jahres eine Summe von 7.325 Euro ausstehender Bußgelder zusammen.
Das Amtsgericht lehnte das Ersuchen der Stadt auf Erzwingungshaft mit der Begründung ab, dass der Betroffene zahlungsunfähig ist und dies auch aktenkundig bekannt sei. Die Erzwingungshaft wegen ausstehender Bußgelder habe lediglich den Zweck, den Willen eines Zahlungsunwilligen zu beugen.
Kritik am Plan der Stadt: Die Erzwingungshaft hat keinen Strafcharakter
Angesichts der Lebenssituation des Betroffenen sei jedoch nicht davon auszugehen, dass sich seine Lebensumstände absehbar verbessern könnten. Zudem habe die Erzwingungshaft gerade keinen Strafcharakter, anders als die Ersatzfreiheitsstrafe, die vollstreckt wird, wenn Geldstrafen nicht vollstreckt werden können.
Von dieser Zahlungsunfähigkeit sei insbesondere bei Betroffenen auszugehen, die nur über das Existenzminimum verfügen würden, kein verwertbares Vermögen besäßen, im Blick auf Alter, Ausbildung und Gesundheitszustand oder Arbeitsmarktlage kein oder kein höheres Einkommen erzielen könnten.
Dementsprechend sei allgemein anerkannt, dass Sozialhilfeempfänger:innen, die nicht in absehbarer Zeit mit der Erlangung einer Arbeitsstelle rechnen können, als zahlungsunfähig anzusehen seien, so das Amtsgericht, das diesbezüglich auf einen Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm verweist.
Ein einzelnes Bußgeld hatte die Höhe von 2.200 Euro
Im vorliegenden Fall verfüge der betroffene Obdachlose jedoch über keinerlei Einkommen, nicht einmal über die Grundsicherung nach ALG II. Außerdem stünden vorrangige Pfändungen gegen den Betroffenen im Raum.
Der Großteil der Bußgelder sei entstanden, weil sich der Betroffene in der Öffentlichkeit im Trinkermilieu zum Biertrinken verabredet habe, was gegen die geltende Corona-Schutzverordnung verstoßen habe. Jedoch fiel es anscheinend selbst dem Gericht schwer, nachzuvollziehen, wie das Bußgeld in schematischer Anwendung „teilweise enorm erhöht“ worden sei, was sogar zur Festsetzung eines einzelnen Bußgeldes in Höhe von 2.200 Euro geführt habe.
„Die offensichtlichen wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen sind dabei nicht berücksichtigt worden. Wie der Betroffene bei Zahlung der festgesetzten Geldbußen auch nur noch annähernd seinen Lebensunterhalt bestreiten können, bzw. wie er überhaupt nur ansatzweise in der Lage sein soll, die festgesetzten Geldbußen zu zahlen, ist nicht ersichtlich“, heißt es im Beschluss.
Kritik an undifferenziertem Vorgehen der Ordnungsbehörden
Der Betroffene sei obdachlos, drogenabhängig und sitze im Rollstuhl – es sei unerfindlich, wie sich an seiner Situation etwas ändern solle, er lebe bereits jetzt „von der Hand in den Mund“.
Auch wenn die Verwaltungsbehörde argumentiere, dass auch vermögenslose Personen unter Einschränkung ihrer Lebensführung die notwendigen Mittel aufbringen sollen, damit sie sich nicht sanktionslos über Ordnungswidrigkeiten hinwegsetzen könnten, ändere dies nichts an der Zahlungsunfähigkeit des Betroffenen, der seinen Lebensunterhalt durch Betteln einnehme.
Auch hierfür habe er mehrfach Bußgelder in Kauf nehmen müssen. Es sei nicht nachvollziehbar, wie der Betroffene seine Lebensführung angesichts der enormen Bußgelder und der bescheidenen Lebensführung noch weiter einschränken sollte.
„Insoweit wäre es Sache der Bußgeldbehörde, schon bei der Ahndung der Ordnungswidrigkeit nur solche Geldbußen festzusetzen, die unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse noch einen angemessenen Sanktionscharakter haben“, so das Urteil wörtlich.
Grüne setzen auf sozialpolitische Maßnahmen und nicht auf Sanktionen
Nicht nur das Amtsgericht scheint „etwas irritiert“ über das rigorose Vorgehen der Dortmunder Ordnungsbehörden zu sein. Denn der Fall soll daher am Dienstag (25. Januar 2022) um 15 Uhr in der öffentlichen Sitzung des Sozialausschuss zum Thema gemacht werden. Die Grünen haben daher einen Fragenkatalog, den die Verwaltung in der Sitzung beantworten soll.
Die Grünen wollen unter anderem wissen, ob und wie die Sozialverwaltung in die Bußgeldmaßnahmen des Ordnungsamtes eingebunden ist und wie die Zusammenarbeit zwischen den Ämtern im Hinblick auf Obdachlose und/ oder bettelnde Menschen ist, darüber hinaus wie die Sozialverwaltung grundsätzlich die Verhängung von Bußgeldern gegen bettelnde Menschen bewertet. Zudem wollen die Grünen wissen, wieviele andere Verfahren noch laufen und um welche Bußgeldhöhen es dabei geht. Ebenso, ob es auch Verfahren zu Erzwingungshaft bzw. Ersatzfreiheitsstrafe gibt.
Schon 2020, im und nach dem ersten Corona-Lockdown, hatte die Stadt für Verstöße gegen das damals geltende Ansammlungsverbot für mehr als zwei Personen Ordnungsstrafen in zum Teil vierstelliger Höhe verhängt. Damals hatte die Stadt die Option eingeräumt, dass Betroffene auf Antrag die Geldbußen auf 20 Euro reduzieren konnten. An der grundsätzlichen Sanktionspraxis wurde aber festgehalten, erinnern die Grünen.
„Statt der Verhängung von nicht eintreibbaren Ordnungsgeldern gegen mittellose obdachlose Menschen muss es darum gehen, durch geeignete Informations- und sozialpolitische Maßnahmen Sanktionierungen zu verhindern. Wenn Bußgelder sich nicht verhindern lassen, sollten die Beträge in einer realistischen Höhe angesetzt sein, die obdachlosen Menschen eine Bezahlung ermöglicht“, betonen die Grünen.
SPD findet Erzwingungshaft nicht angemessen, will aber die Verwaltung hören
„Die Erzwingungshaft ist in diesem vorliegenden Fall sicher nicht das angemessene Mittel. Aus unserer Sicht erfüllt diese nicht den gewünschten Zweck. Dennoch gibt es Regeln, die für alle gelten. Die Stadt hat dabei die Aufgabe, diese Regeln zu kontrollieren und verhältnismäßig zu sanktionieren. Fehlverhalten, unabhängig von wem ausgeübt, darf nicht toleriert werden“, heißt es dazu von der SPD-Fraktion.
„Eine Erzwingungshaft lehnen wir im vorliegenden Fall jedoch ab. Hier muss mit Augenmaß vorgegangen werden, aber auch darauf geachtet werden, dass keine rechtsfreien Räume entstehen. Wie kann man den Bürgern sonst erklären, warum sich einige an Regeln halten müssen und andere nicht?“, heißt es weiter.
„Dem Rechtsamt muss nun aber auch die Möglichkeit gewährt werden, zu dem Fall ausführlich Stellung zu beziehen und die Maßnahme zu erklären. Erst wenn alle Fakten auf dem Tisch liegen und beide Seiten gehört wurden, ist eine faire Beurteilung möglich“, betont die SPD-Fraktion.
Der CDU-Fraktionsvorsitzende Dr. Jendrik Suck erklärt für die CDU-Fraktion: „Wir verstehen, dass das Vorgehen der Verwaltung auf Grundlage der bislang bekannten Informationen bei anderen Fraktionen zu Nachfragen im Sozialausschuss und möglicherweise auch im Rat führt. Die Verwaltung wird dort Ihr Handeln erklären, begründen und damit für die notwendige Transparenz über den gesamten Sachverhalt sorgen. Erst im Anschluss ist uns eine abschließende politische Bewertung des Falls möglich, die wir dann auch vornehmen werden.“
Fraktion Die Linke+ wirft Stadtverwaltung rechtswidriges Handeln vor
Die Fraktion „Die Linke+“ wartet nicht erst die Bewertung ab, sondern spricht von einem handfesten Skandal im Umgang mit Obdachlosen in der Stadt Dortmund: „Ich bin fassungslos. Schlechter hätte das Jahr politisch gar nicht starten können“, betont Fatma Karacakurtoglu, sozialpolitische Sprecherin der Ratsfraktion.
Sie macht nachdrücklich darauf aufmerksam, dass das Amtsgericht sogar explizit festgestellt habe, dass eine Erzwingungshaft nicht als Ersatzfreiheitsstrafe missbraucht werden dürfe. „Oder schärfer ausgedrückt, als Gerichte das tun dürfen: Rechtsdezernent und Rechtsamt verhalten sich gegenüber Obdachlosen rechtswidrig. Dieses Verhalten der Stadt wird Die Linke+ in der nächsten Ratssitzung thematisieren.“
Es sei skandalös, wie in Dortmund immer noch mit den Schwächsten der Gesellschaft umgegangen werde. Das müsse endlich aufhören. Die Stadt Dortmund habe eine Verantwortung für jeden Menschen, der hier lebt. Deshalb müsste es die Aufgabe von städtischen Mitarbeitern sein, Obdachlosen zu helfen statt sie zu gängeln. Ihnen Strafzettel in insgesamt unrealistischer Höhe zu verpassen, das sei abartig, so Karacakurtoglu.
Der wohnungslose Mann sei unter anderem mehrfach wegen Verstoßes gegen die Corona-Auflagen in der Öffentlichkeit aufgefallen. Natürlich heiße sie dieses Verhalten nicht gut, sagte Fatma Karacakurtoglu. „Regeln gelten für alle. Aber man darf nicht vergessen, dass gerade wegen Corona viele Hilfsangebote teilweise monatelang geschlossen waren“, sagt die Ratsfrau.
Auch die obdachlosen Menschen gehören zur Solidargemeinschaft
„Obdachlose können nun mal nicht nach Hause gehen, auch wenn die Ordnungsdienste sie noch so häufig dazu auffordern.“ Hinzu komme, dass sicher nicht jeder Obdachlose täglich die Nachrichten verfolge und die jeweils gültigen Corona-Regeln kenne. Da wäre schon ein wenig Fingerspitzengefühl von den städtischen Ordnungsmitarbeitern passend gewesen.
Doch Fingerspitzengefühl alleine reicht der linken Politikerin nicht. „Die Stadt Dortmund und viele soziale Organisationen tun schon sehr viel für die Obdachlosen“, sagt Fatma Karacakurtoglu, die die diversen Maßnahmen als Mitglied im Sozialausschuss begleitet und auch anerkennt.
„Doch dieser aktuelle Fall zeigt uns doch, dass es offenbar immer noch nicht genügend Hilfen gibt. Wir müssen noch mehr tun. Und wir müssen vor allem das Richtige tun.“ Eine Möglichkeit sei, das Modell ‚Housing First‘ noch schneller und umfangreicher voranzutreiben, eine Art betreutes Wohnen in eigenen Wänden.
Eine solidarische Gemeinschaft dürfe jedenfalls keinen Menschen allein lassen. Auch wenn dieser möglicherweise nicht in das gängige Bild des Ordnungsamtes von Sauberkeit und Ordnung passe, fasst Fatma Karacakurtoglu zusammen.
AfD: „Zutiefst unsoziale Politik“ und „völlig außer Kontrolle geratene Corona-Bußgeldorgie“
„Wer exorbitante Bußgelder gegenüber obdachlosen Menschen festsetzt und daraufhin noch Erzwingungshaft fordert sowie dieses für eine realistische Sanktionspraxis hält, der betreibt eine zutiefst unsoziale Politik“, kommentiert Heiner Garbe, Vorsitzender der AfD-Ratsfraktion Dortmund, den Vorgang. „Hier scheint die Schikane und nicht eine verhältnismäßige und realistische Sanktionspraxis im Vordergrund zu stehen. Wir haben es hier mit einer völlig außer Kontrolle geratenen Corona-Bußgeldorgie zu tun, die an Absurdität nicht mehr zu überbieten ist.“
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Housing First – Richtige Forderung des Cityrings ist längst beschlossen, aber noch nicht umgesetzt (PM Grüne)
Im Zusammenhang mit der Diskussion um obdachlose Menschen in der Innenstadt hat sich der Cityring nun für das Konzept „Housing First“ ausgesprochen. Für die GRÜNEN im Rat ist das der richtige Ansatz, um eine bestehende Lücke im Dortmunder Hilfesystem zu füllen.
Bereits im Mai 2021 hatte der Rat der Stadt auf Antrag der Fraktionen von GRÜNEN, CDU und Linke+ beschlossen, die Dortmunder Wohnungslosenhilfe um den Ansatz „Housing First“ zu ergänzen. Dafür sollten in einem ersten Schritt 20 Wohnungen in einem Modellversuch zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus sollte die Verwaltung ein Umsetzungskonzept entwickeln. Passiert ist bis heute nicht viel.
„Die Dortmunder Wohnungslosenhilfe ist in vielen Bereichen gut aufgestellt, vermeidet drohende Obdachlosigkeit oder baut diese ab. Das in Dortmund angewandte Stufensystem zur Integration in eigenen Wohnraum ist allerdings nicht für alle Betroffenen das geeignete Mittel zur langfristigen Vermeidung von Wohnungslosigkeit. Für diesen Personenkreis enden die Maßnahmen häufig wieder auf der Straße. Der Ansatz Housing First kann für sie das geeignete Instrument zur langfristigen Vermeidung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit sein. Insofern wäre Housing First ein weiterer Baustein im bestehenden Hilfesystem“, erläutert Ulrich Langhorst, GRÜNES Ratsmitglied und Vorsitzender des Sozialausschusses.
Beim Konzept Housing First werden Wohnungslose direkt in Wohnungen mit eigenem Mietvertrag untergebracht ohne die Bedingung, vorher eine „Wohnfähigkeit“ nachweisen zu müssen. Housing First beendet damit schon im ersten Schritt Wohnungslosigkeit und bietet begleitend Hilfen zum dauerhaften Wohnungserhalt. Der Antrag der GRÜNEN und anderer Fraktionen sah vor, dass die Verwaltung prüft, welche Wohnungen des städtischen Wohnraumvorhalteprogramms bzw. Wohnungen im Besitz der Stadt Dortmund bereits jetzt für Housing First geeignet sind. Zusätzlich sollte die Verwaltung Gespräche mit den Vermieter*innen der von der Stadt angemieteten Wohnungen führen, um eine Nutzung der Wohnungen im Rahmen von Housing First zu ermöglichen.
„Das Ergebnis war ernüchternd: Laut Verwaltung gäbe es keine passenden Wohnungen oder Vermieter*innen seien nicht bereit, an Obdachlose zu vermieten. Zusätzlich verweist die Verwaltung darauf, dass im Rahmen des städtischen Wohnraumvorhaltprogramms obdachlose Menschen untergebracht sind, die dann später einen Mietvertrag erhalten können. Das ist allerdings noch kein Housing First“, so Ulrich Langhorst.
Inzwischen haben das Diakonische Werk und das Soziale Zentrum auf eigene Faust sieben kleine Eigentumswohnungen für Housing First erworben. Die Verwaltung selbst hat in ihrer letzten Stellungnahme im Oktober darauf verwiesen, dass der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) nun Housing First-Projekte fördert und zur Umsetzung für Träger der freien Wohlfahrtspflege und private Vermieter*innen in den nächsten vier Jahren 6 Millionen Euro zur Verfügung stellt.
„Wir wollen, dass Dortmund von diesem Programm profitiert. Deshalb sollte die Verwaltung nun flankierend Unterstützungen für die Träger anbieten, die sich am LWL-Programm beteiligen wollen. Darauf werden wir drängen. Unser Ziel muss es sein, Housing First in einem größeren Umfang als zusätzliches Instrument der Wohnungslosenhilfe in Dortmund zu etablieren“, so Ulrich Langhorst abschließend.