Von Sascha Fijneman
Nach zweiwöchiger Verzögerung aufgrund des Pandemiegeschehens konnte am Mittwoch (20.Januar 2021) im Landgericht Dortmund der Prozess um den Mord an der Schülerin Nicole-Denise Schalla aus dem Jahre 1993 fortgesetzt werden. Bevor am Montag (25. Januar 2021) das endgültige Urteil verkündet werden soll, standen am heutigen Verhandlungstag die Plädoyers auf dem Programm. Während die Staatsanwaltschaft die Täterschaft des Angeklagten durch die Beweisaufnahme als erwiesen ansieht und lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes fordert, plädiert die Verteidigung des Angeklagten auf Freispruch. Sie hält die Mordanklage für unhaltbar, da keine Merkmale der Heimtücke und des Vorsatzes erkenntlich seien und stuft das Verbrechen demnach als Totschlag ein, der nach 20 Jahren verjährt gewesen wäre.
Eigentlicher Tathergang bleibt auch nach zwei Verhandlungen diffus
Ein großes Problem für alle Verfahrensbeteiligten bleibt, dass auch nach zwei Jahren intensiver Prozessführung und zwei Verhandlungen am Landgericht Dortmund mit etlichen Zeugenvernehmungen und Gutachteranalysen der eigentliche Tathergang des mittlerweile mehr als 27 Jahre zurückliegenden Verbrechens völlig diffus und unklar bleibt. ___STEADY_PAYWALL___
Dem 55-jährigen Ralf H. wird vorgeworfen die damals 16-jährige Nicole-Denise Schalla auf ihrem Heimweg an einer Bushaltestelle verfolgt, sie angegriffen, sich sexuell an ihr vergangen und sie anschließend brutal erwürgt zu haben. Nachdem die Ermittlungen über Jahre hinweg keine brauchbaren Ergebnisse lieferten, kam es 2018 bei einer Routineüberprüfung alter Beweismittelträger zu einer DNA-Übereinstimmung mit dem Angeklagten.
Auf einer Folie, die von der unbekleideten Leistengegend des Opfers genommen wurde, fand sich ein einziger Hautpartikel, welcher mit den DNA-Merkmalen des Angeklagten übereinstimmt. Ralf H. wurde im Juni 2018 festgenommen und saß rund zwei Jahre in Untersuchungshaft. Im Dezember 2018 startete der erste Prozess gegen ihn am Landgericht Dortmund.
Staatsanwaltschaft plädiert auf Mord und lebenslange Freiheitsstrafe
Nach rund einem Jahr Prozessführung mit vielen Verzögerungen, konnte die Verhandlung im Frühjahr 2020 aufgrund der langfristigen Erkrankung einer beteiligten Richterin nicht fortgesetzt werden, da verbindliche Fristen nicht eingehalten werden konnten. Aufgrund des schleppenden Prozesses und der weiteren Verzögerung wurde Ralf H. durch ein Urteil des Oberlandesgerichts Hamm aus der U-Haft entlassen und betritt den Gerichtssaal im zweiten Prozess seither als freier Mann.
Diese zweite Verhandlung begann im August letzten Jahres. Die Beweisaufnahme konnte diesmal zügiger vonstatten gehen, da bestimmte Rechtsgutachten und DNA-Analysen ja schon aus dem ersten Prozess vorlagen. Erneut wurden jedoch eine Vielzahl Zeugen und Sachverständige angehört, ohne jedoch den eigentlichen Tathergang erhellen zu können.
Das Urteil zur Haftentlassung des Oberlandesgerichts Hamm bezeichnet Staatsanwalt Felix Giesenregen heute als „zweifelhaft“. Er ist überzeugt das die Einzelpartikelanalyse der gefundenen Hautschuppe die Täterschaft des Angeklagten beweist. Zu Beginn seines Plädoyers verdeutlichte er, dass dieses auf drei Säulen fusse. Zum einen sei dem Angeklagten die Täterschaft nachgewiesen worden, zum anderen gebe es eindeutige Merkmale, die den Sachverhalt des Mordes untermauern würden und zum Schluss wolle er die daraus resultierende Rechtsfolge erläutern.
Wie gelangte die einzelne Hautschuppe an die Leiche des Opfers?
Die schwierige Frage in Sachen Hautpartikel sei letztlich, wie die Spur an den Leichnam des Opfers gelangt sei. Hier komme entweder die primäre Übertragung durch direkten Kontakt, das Antragen des Materials beispielsweise durch das Berühren eines Gegenstandes mit DNA-Anhaftungen (sekundär) in Frage oder aber eine dritte Person habe das Spurenmaterial zum Beispiel durch Berührung des Leichnams hinterlassen (tertiäre Übertragung).
Giesenregen verwies an dieser Stelle auf die Aussage einer Rechtsmedizinerin, dass eine Übertragung der Form wie an der Leiche sichergestellt, in der Regel einen intensiven Kontakt voraussetze. Am Morgen des Leichenfundes hatten Müllmänner, die das tote Mädchen zunächst für eine Puppe hielten, nach eigener Aussage den Körper mit dem Fuß berührt. Dass hierdurch eine Übertragung des Zellmaterials stattgefunden haben könnte, schließe die Staatsanwaltschaft aus. Nach Aussage der Zeugen habe man die Leiche auch am Oberschenkel berührt und nicht in der Leistengegend.
Auch die Übertragung durch einen vorbeifahrenden Müllwagen hält Giesenregen für sehr unwahrscheinlich. Die Möglichkeit, dass Nicole-Denise vielleicht im Bus, mit dem sie am Tatabend nach Hause fuhr, in Kontakt mit dem Material gekommen sei, indem sie evtl. einen Haltegriff oder ähnliches berührt habe sei jedoch realistisch und nicht auszuschließen. Doch dagegen würde sprechen, dass dar Hautpartikel von der unbekleideten Leistengegend des Mädchens stammt. Bei einem Gedränge im Bus, was bei einer nächtlichen Fahrt (die Tat ereignete sich zwischen 22 und 23 Uhr) ohnehin nicht plausibel erscheine, seien eher Spuren an der Kleidung des Mädchens zu erwarten gewesen.
Staatsanwaltschaft hält primäre Übertragung durch direkten Kontakt für am wahrscheinlichsten
Giesenregen erläutert, das man es im Fall Schalla mit einem extrem spurenarmen Tatort zu tun gehabt habe. Einen Grund hierfür sieht er darin, dass die Leiche über einen längeren Zeitraum dem nächtlichen Regen ausgesetzt war und etwaige Spuren somit abgewaschen worden sein könnten. Aber dass die Hautspur durch dieses Abwaschen erst in die nackte Leistengegend transportiert worden sei, sei nicht nachvollziehbar. Dann hätte die Spur seiner Ansicht nach weiter fließen müssen, da eine hemmende Barriere nicht vorhanden gewesen sei.
Auch eine tertiäre Übertragung schließt die Staatsanwaltschaft aus, denn auf den Klebefolien, die als Beweismittelträger dienen, seien lediglich DNA-Spuren von Ralf H. und Nicole-Denise selbst gefunden worden. In diesem Falle sei DNA-Material einer dritten Person zu erwarten gewesen. Weitere DNA-Spuren vom Pullover des Mädchens hatten beim Abgleich mit den Datenbanken der Ermittlungsbehörden keine Ergebnisse liefern können.
Aufgrund der objektiven Spurenlage komme für Giesenregen nur die primäre Übertragung durch direkten Kontakt zwischen Opfer und Angeklagtem in Frage. Dies untermauere auch die Tatsache, dass im Dammbereich des Opfers ein Haar sichergestellt werden konnte, dass durch eine Blutgruppenbestimmung dem Angeklagten zugeordnet werden könnte. Dies ist jedoch nur von geringer Beweiskraft, da ein Großteil der Bevölkerung über dieselbe Blutgruppe wie der Angeklagte verfügt. Dieses Indiz fügt sich jedoch nahtlos ein in die Argumentation der Staatsanwaltschaft. Aber Giesenregen machte auch klar, dass der Beweiswert der Blutgruppenuntersuchung als kritisch zu bewerten aber als ein weiteres Indiz durchaus tragfähig sei.
Tathergang im öffentlichen Raum würde zum Modus Operandi des Angeklagten passen
Im weiteren Verlauf seines Plädoyers verdeutlichte Felix Giesenregen, dass die begangene Tat in das strafrechtliche Vorleben des Angeklagten passe. Mehrfach ist er wegen massiver gewalttätiger Übergriffe gegen Frauen verurteilt worden. Ein auffälliges Merkmal seiner Taten sei, dass sie in aller Öffentlichkeit unter der Gefahr, erwischt zu werden, stattgefunden hätten. Dies treffe in der Regel auf einen sehr kleinen Täterkreis zu. Hierauf hatte im Prozessverlauf auch Nebenklageanwältin Arabella Pooth bereits mehrfach hingewiesen.
Nicole-Denise Schalla habe in das Beuteschema des Angeklagten gepasst, der Tathergang entspreche dem Modus Operandi der vorangegangen Taten. Bei einer Verurteilung im August 1993, nur rund drei Monate vor dem Mord an Nicole-Denise Schalla, stand Ralf H. vor Gericht weil er ein ebenfalls 16-jähriges Mädchen bedrängt und in ein Gebüsch gezogen habe. Ein weiteres Muster seiner Taten sei, dass sie alle im unmittelbaren Lebensumfeld des Angeklagten begangen worden seien.
In der Gesamtschau ist die Staatsanwaltschaft überzeugt, dass es ich bei Ralf H. um den gesuchten Täter handelt. Die Hautpartikelanalyse und die Blutgruppenübereinstimmung des Haares im Dammbereich würden dies ausreichend untermauern. „Ich möchte Sie bitten, klären Sie die Eltern auf. Sie haben erhebliches Leid zugefügt. Es ist ihr gutes Recht hier vor Gericht zu schweigen aber gehen sie noch einmal in sich“, appellierte der Staatsanwalt an dieser Stelle an den Angeklagten.
Mordmerkmale der Heimtücke und des Vorsatzes für die Anklage gegeben
Auch wenn der genaue Tathergang weiter diffus bleibe, sei die Anklage von Mordmerkmalen wie Heimtücke und Vorsatz überzeugt. Nicole-Denise Schalla sei völlig arg- und wehrlos gewesen, als sie Musik über einen Walkman hörend von hinten von dem ihr körperlich überlegenen Angeklagten angegriffen worden sei, was das Mordmerkmal der Heimtücke erfülle.
Ralf H. habe die Situation ausgenutzt und sie bis zum Tode gewürgt. Auch dass die Leiche des Mädchens keinerlei Abwehrverletzungen aufweise, untermauere, dass das Opfer keinerlei Chance zur Gegenwehr gehabt habe. Selbst wenn der Angeklagte das Mädchen nicht mit dem Vorsatz es zu ermorden angegriffen habe, sei die Heimtücke eindeutig und somit als Mord zu werten.
Der entkleidete Unterleib und die zerrissene Unterhose würden die sexuelle Motivation deutlich machen, auch wenn vorangegange Taten des Angeklagten nie sexuell motiviert gewesen seien. Aber in all diesen Fällen hätte der Angeklagte seine Tat auch nicht vollenden können, da immer Dritte eingegriffen und den Opfern zur Hilfe geeilt wären.
Antrag auf Erlass eines erneuten Haftbefehls aufgrund hoher Fluchtgefahr
Natürlich sei auch denkbar, dass das Opfer um Hilfe geschrien habe und der Täter den Entschluss zum Morden erst in diesem Moment gefasst habe, um seine Tat zu verdecken. „Doch egal wie wir es drehen und wenden. Alle Sachverhaltsalternativen weisen auf einen Mord hin“, so der Staatsanwalt.
Aus dieser Argumentation leite er seine Forderung nach lebenslanger Freiheitsstrafe ab. Ein Gespräch mit einem psychologischen Gutachter hatte Ralf H. immer abgelehnt, doch durch die Aussage eines Sachverständigen aufgrund der Aktenlage, sei keine verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten gegeben. Außerdem beantrage er die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Hierdurch könnte der Angeklagte im Falle einer Verurteilung nicht vorzeitig aus der Haft entlassen werden. Auf eine anschließende Sicherungsverwahrung verzichtete die Staatsanwaltschaft.
Zum Zeitpunkt seiner letzten Verurteilung im Jahr 2003 durch das Landgericht Münster, habe man den Angeklagten als Triebtäter einstufen können und müssen und damals auch die Sicherungsverwahrung angeordnet. Seither sei er jedoch nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten. Eine Strafe von viereinhalb Jahren, die H. bereits abgesessen hat, soll auf das Urteil angerechnet werden. Doch weitere mildernde Umstände seien nicht gegeben. Zu guter letzt beantragte Giesenregen. erneut einen Haftbefehl gegen Ralf H. zu erlassen, da große Fluchtgefahr bestehe.
Ergreifende Worte von Mutter Sigrid Schalla: „Zeit heilt nicht alle Wunden.“
Nebenklagevertreterin Arabella Pooth schloss sich den Ausführungen Giesenregens an. Sie machte noch einmal deutlich, welch extrem psychische Belastung die Ungewissheit und die lange Prozessführung für die Eltern von Nicole-Denise, Joachim und Sigrid Schalla, bedeutet, die seit 27 Jahren in quälender Ungewissheit leben müssen, was ihrer geliebten Tochter am Tatabend tatsächlich zugestoßen ist.
Auch Pooth wandte sich mit einem Appell an den Angeklagten, sein Schweigen zu brechen, auch wenn dies sein gutes Recht sei. Auch sie sieht die DNA-Spuren als Indizien, die allein nicht für eine Mordverurteilung ausreichen würden, es gebe jedoch genug andere Hinweise.
Auch sie machte nochmal auf den Modus Operandi in aller Öffentlichkeit aufmerksam, auf die frauenfeindliche Gesinnung des Angeklagten, auf die letzte Verurteilung kurz vor der Tat im Jungferntal und auf seine sexuellen Vorlieben. Mehrfach hatte sie im Prozessverlauf darauf hingewiesen, dass H. sadomasochistische Vorlieben habe. Pooth schloss sich den Forderungen Giesenregens an.
Ein ergreifender Moment entstand im Gerichtssaal als Mutter Sigrid Schalla zu Wort kam. Unter Tränen bezeichnete sie das Verbrechen als feige, bösartig, brutal und grausam. „Nikki hatte keine Chance“, so die trauernde Mutter. Es habe allem Anschein nach keinen Kampf gegeben. Warum also habe der Täter nicht von ihrer Tochter abgelassen, als diese das Bewusstsein verlor? „Ich kann Ihnen allen aus eigener Erfahrung sagen, Zeit heilt nicht alle Wunden. So etwas verfolgt einen das ganze Leben. Nikki wird vermisst.“
Verteidiger Udo Vetter bezeichnet Ausführungen der Anklage als „Rosinenpickerei“
Als Rosinenpickerei bezeichnete Rechtsanwalt Udo Vetter die Argumentation der Staatsanwaltschaft, die gewisse Erkenntnisse oder Alternativen, die die Beweisführung erbracht hätten, einfach auslassen würden. Zuvor betonte er jedoch, dass er es dem Kollegen Giesenregen hoch anrechne, um ein faires Plädoyer bemüht gewesen zu sein.
Problematisch sei jedoch die rechtliche Würdigung der Fakten. Auch gewandt an die Familie Schalla machte er klar, dass er als Rechtsanwalt nun eine andere Perspektive einzunehmen habe. „Mir als Mensch und Verteidiger auf Seite des Angeklagten ist ihr schweres Schicksal durchaus bewusst. Es hat ihr Leben vernichtet und ich möchte Sie meines aufrichtigen Mitgefühls versichern. Es ist nicht vorbestimmt auf welcher Seite ich sitze“, richtete er seine Worte direkt an Joachim und Sigrid Schalla.
Es ginge vor Gericht nicht um Sympathie oder Antipathie, sondern um die juristisch professionelle Würdigung der Ausgangslage. Mutmaßungen könnten in diesem Sinne keine Grundlage für eine Urteilsfindung sein. Auch der Druck des öffentlichen Interesses, Antipathien gegen seinen Mandanten und die Tatsache, dass man ihm die Tat evtl. zutrauen würde, seien im Prozess nicht von Belang.
Wäre es auch zu einer Mordanklage gekommen, wenn Totschlag nicht bereits verjährt wäre?
Das Gericht habe letztlich nach Faktenlage, die den Tatnachweis untermauert, zu urteilen. Dies sei jedoch bei dem völlig unklaren Tatgeschehen im vorliegenden Fall nicht möglich. Auch die Mordanklage sei nicht haltbar. Er unterstellte, dass es im Fall Schalla nie zu einer Mordanklage gekommen wäre, wenn nicht im Falle eines Totschlags die Verjährung im Raum gestanden hätte.
Diese Erkenntnis hätten ihn rund 30 Jahre Berufserfahrung gelehrt. Im Fall Nicole-Denise Schalla könne von Mord jedoch nicht die Rede sein, allenfalls von Totschlag, der möglicherweise sexuell motiviert gewesen sei. Was er von Staatsanwaltschaft und Nebenklage gehört habe, seien vergebliche Bemühungen Mordmerkmale zu verdeutlichen.
Bei einem Mord aus sexueller Motivation müsse das Töten an sich dem Täter sexuelle Befriedigung verschaffen. Am Leichnam des Opfers wurden jedoch keine Spermaspuren oder anderweitige Merkmale eines sexuellen Vergehens festgestellt. Die Anklage leite diesen Vorwurf aus dem Umstand ab, dass die Leiche mit hochgeschobenem Pullover und heruntergezogenen Hosen aufgefunden worden war.
Anklage und Verteidigung sprechen von ungewöhnlich spurenarmen Tatort
Vetter moniert, dass gewisse Erkenntnisse der Beweisführung einfach nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. So habe Nicole-Denise damals mehrfach berichtet, dass sie sich von einem Kadettfahrer verfolgt gefühlt habe. Dies sei angesichts der dürftigen Indizienlage durchaus relevant. Im Plädoyer habe man sich auf die DNA-Spuren gestürzt und alles andere ausgeblendet.
So verweist Vetter auf einen Anruf eines Polizeibeamten, der Nicole-Denise damals zu einer Vernehmung einladen wollte. Hierbei ging es unter anderem um ihren damaligen Freund, der Mitglied einer Gang gewesen sein soll. Dieses soziale Umfeld habe die Staatsanwaltschaft völlig ausgeblendet.
„Wir haben bei diesem Indizienprozess fast nichts in der Hand aber die Informationen zugunsten des Angeklagten werden einfach zur Seite geschoben“, moniert Vetter. Doch die schärfste Kritik übte der Verteidiger, der im Übrigen sowohl für seinen Kollegen André Bohn, den Pflichtverteidiger des Angeklagten sprach, an der Konzentration auf die Hautpartikelanalyse. Auch Vetter verweist auf den ungewöhnlich spurenarmen Tatort.
Verteidigung hält DNA-Spuren von der Kleidung des Opfers für durchaus relevant
„Ich kritisiere ihren Versuch, den Fakt wegzureden, dass es bei den Ermittlungen mindestens eine weitere DNA-Spur auf dem Pullover des Opfers gegeben hat, die nicht dem Angeklagten zuzuordnen ist.“ Hierdurch komme definitiv eine zweite Person als Täter in Frage. Abgleiche mit den Datenbanken der Ermittlungsbehörden hatten in diesem Fall zu keiner Übereinstimmung mit den hinterlegten Mustern geführt.
Es sei geradezu abenteuerlich, dem keine Beachtung zu schenken. „Was würden Sie tun, wenn es einen Treffer gegeben hätte? Wären Sie dann immer noch sicher, dass es sich bei Ralf H. um den Täter handelt?“, fragt Vetter die Anklagebank. Hier würden zwei gleichwertige Indizien völlig widersprüchlich beurteilt. Und es handele sich bei den DNA-Treffern um Indizien, nicht um Beweise, betonte der Anwalt. Man könne nicht Indizien ausblenden und nur berücksichtigen, was der eigenen Argumentation diene.
DNA-Rückstände am Pullover oder T-Shirt des Opfers seien bei einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen Täter und Opfer ja sogar zu erwarten, daher müsse man diese Funde auch als relevant einstufen. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die DNA von der Bekleidung anders eingestuft würde als die vom Körper des Opfers.
Viele unterschiedliche Möglichkeiten für die Antragung des Spurenamaterials denkbar
Es gebe hier keinen qualitativen Unterschied der Spuren. Zudem seien die im Dammbereich des Opfers sichergestellten Haare näher am Intimbereich als die Hautschuppe in der oft erwähnten Leistengegend und somit seien sie tatrelevant. Sie könnten rein theoretisch ja sogar denselben Ursprung haben wie die DNA auf dem Pullover.
Auch könnten die Mitarbeiter der Müllabfuhr die Leiche doch öfter und anders berührt haben, als vor Gericht angegeben. Auch die Tatsache, dass nur eine einzelne Hautschuppe gefunden worden sei, löse Bedenken bei der Verteidigung aus, denn dies sei nicht wirklich aussagekräftig, bei mehreren Spuren sähe das schon anders aus.
Es seien etliche Übertragungswege des Materials denkbar, da der Angeklagte sich bedingt durch seinen Wohnort ja auch im selben Umfeld wie das Opfer bewegt habe. Auch habe Nicole-Denise selber am Tattag viele Kontakte zu anderen Personen gehabt. Vetter konstatierte, dass man es mit einer versuchten Sexualstraftat zu tun habe. Für einen Mordvorwurf liege nur dürftiges Faktenmaterial vor.
Udo Vetter: „Wir wissen einfach nicht, was genau passiert ist.“
Ein Rechtsmediziner hatte während der Beweisaufnahme darauf hingewiesen, dass der Tötungsvorgang des Erwürgen ein mehrminütiges Geschehen voraussetze. Dies sei ein Beweis dafür, dass der Täter versucht habe, die Oberhand zu gewinnen und das Opfer nicht arg- und wehrlos gewesen sei, was den Vorwurf der Heimtücke ausschließen würde.
Auch den Vorwurf der Verdeckung der eigenen Straftat versuchte Vetter dadurch zu entkräften , dass dies „verwegene und vermessene Spekulation“ sei. „Wir wissen einfach nicht genau, was passiert ist.“ Es sei eine Vielzahl anderer Alternativen des Tathergangs denkbar.
Das für die Verteidigung naheliegendste Szenario sei ein Hergang, wie er vielfach üblicherweise bei solchen Delikten vorkomme, was Vetter wieder mit seiner rund 30-jährigen Berufserfahrung untermauerte. Täter spricht Opfer an, dieses verwehrt sich, der Täter wird übergriffig. Dies könne er sich auch dadurch vorstellen, dass Nicole-Denise im Prozess von Zeug*innen als beherzt, selbstbewusst und nicht konfliktscheu beschrieben worden sei.
Verteidigung appelliert an Schöffen als Diener des Rechtsstaats
Er richtete seinen Appell in Richtung Schöffen. Auch wenn es nur schwer zu ertragen sei, sollten sie sich von dem Gedanken verabschieden, Sühne für das Verbrechen zu erzwingen. Er wiederholte, dass der angenommene Tathergang aus Sicht der Verteidigung keine Mordmerkmale aufweise. Im Rechtsstaat würden die Gesetze gleichermaßen für alle Menschen gelten.
„Verabschieden Sie sich von dem Gedanken, diese Tötung kreativ einer Bestrafung zuführen zu müssen“, so der Verteidiger in Richtung Schöffen. Denn ein weiteres grundlegendes Prinzip des Rechtsstaates laute „in dubio pro reo“, im Zweifel für den Angeklagten. Die Schöffen seien Diener des Rechtsstaates und dürften nicht nach ihrem Empfinden urteilen, sondern müssten den Angeklagten freisprechen, wenn sie nicht von seiner Täterschaft überzeugt sind – alles andere sei rechtsstaatlich unsauber.
Es ginge nicht darum, Gerechtigkeit zu erzwingen, auch wenn die Emotionalität des Falles geradezu zu einfachen Lösungen verlocke. Sein Mandant wolle sich auch am vorletzten Verhandlungstag nicht zu den Vorwürfen äußern, da er sich als unschuldig betrachte und sich daher auch nicht entschuldigen könne. Zu guter letzt wandte er sich direkt an die Eltern von Nicole-Denise mit den Worten: „Eine Verurteilung wird Ihnen keinen Seelenfrieden bringen. Dafür bleiben einfach zu viele Zweifel.“
Urteil soll voraussichtlich am Montag, den 25. Januar verkündet werden
Zum Abschluss des Verhandlungstages gab der Vorsitzende Richter Thomas Kelm Ralf H. noch einmal die Gelegenheit für letzte Worte, die dieser auch nutzte. „Ich bin unschuldig, obwohl ich zwei Jahre in Haft gesessen habe. Mein Leben ist ein Spießrutenlaufen geworden. Ich hoffe inständig, das dieser Albtraum bald zu Ende ist. Bitte sprechen Sie mich frei.“
Das Gericht wird sich nun bis zum kommenden Montag zur Beratung zurückziehen. Der Prozess genießt ein großes öffentliches und mediales Interesse.
Mehr zum Thema bei nordstadtblogger.de: