In unserer Serie »Stadt-Bauten-Ruhr« beschäftigen wir uns mit prägnanter Nachkriegsarchitektur im öffentlichen Raum des Ruhrgebiets, schwerpunktmäßig in Dortmund. Es geht um Kirchen, Rathäuser, Museen, Theater, Universitäten u.a., die einer ansonsten von Schwerindustrie geprägten Region urbane, ja fast mondäne Gesichter verleihen sollten. Mit einem überraschenden Resultat: Geformt im 20. und 21. Jahrhundert, ist heute der Landstrich zwischen Rhein und Ruhr der mit den meisten Kulturbauten in der Bundesrepublik wie in Europa, wahrscheinlich sogar weltweit. So zumindest die Herausgeber*innen eines fast 400 Seiten starken Konvoluts, 2020 erschienen im Dortmunder Verlag Kettler, welches die Grundlage unserer mehrteiligen Beitragsreihe bildet.
Im Revier der Transparenzen. Architekturdiskurse für eine Nachkriegsgesellschaft
Ein Buchbeitrag von Christos Stremmenos
»Nach dem Gesagten können wir wohl von einer ›Glaskultur‹ sprechen. Das neue Glas-Milieu wird den Menschen vollkommen umwandeln. Und es ist nun nur zu wünschen, daß die neue Glaskultur nicht allzu viele Gegner findet.«(1) Paul Scheerbart
Mit 1000 Feuern, farbigen Installationen und Programmparcours eröffnete am 9.1.2010 feierlich in einer weißverschneiten Landschaft im Essener Norden die Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010. Mit großmaßstäblichen Klinker- und Stahlarchitekturen des Weltkulturerbes Zeche Zollverein im Hintergrund wurden Bilder in die Welt getragen, die sich vor einer erwartbaren Kulisse Ruhrgebiet aufbauten. Die Kulturhauptstadt wurde in der Folge über das gesamte Jahr an diversen Orten abgehalten und zeigte einen andersartigen Austragungsort auf, der fern gewöhnlicher Konnotationen komplexer und bunter konstruiert ist und in gewisser Weise Parallelen zur Biennale in Venedig aufzeigt.
Die Biennale lebt von der Diversität und Widersprüchlichkeit ihrer Veranstaltungsorte, die zwei komplementäre Strukturen einander ergänzt: ein großmaßstäbliches Rückgrat, das »Arsenale«, die einstigen Werftanlagen, und die »Giardini«, eine Parkanlage mit verstreuten nationalen Ausstellungpavillons, die sich in jeweils ganz eigenen Architekturen präsentieren.
Mit einem Arsenal von für Kultur umgewidmeten Industriedenkmälern – Zeche Zollverein, Dortmunder U und das ehemalige Landesoberbergamt in Dortmund – und einer Landschaft, die sich in gesättigten Grüntönen inmitten der dicht an dicht liegenden Städten ausbreitet, mit Kulturbauten, die als Vertreter ihrer Städte eine Kulturlandschaft Ruhr mit Museen, Theatern und Opernhäusern sprenkeln, zeigt das Ruhrgebiet als Austragungsort von Kunst und Kultur in einem größeren Maßstab durchaus Analogien zur Biennale auf.
Viele dieser städtischen Vertreter, die sich als Tempel, Glaskisten, Pavillons, perforierte Monolithe und raumumspülte Kubaturen präsentieren, sind in den Wiederaufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und zeugen von einer Zeit, in der nach den Jahren der Naziherrschaft auf internationale Vorbilder zurückgegriffen wurde, die einst auch mit deutschen Beiträgen maßgeblich mit erdacht worden waren.
Das 1946 gegründete Bundesland Nordrhein-Westfalen und hier im Besonderen das Ruhrgebiet wurden zur Triebfeder gesellschaftlicher Emanzipationsbestrebungen, die sich in Raumkonzeption wie Transparenz, Niederschwelligkeit, Offenheit, Flexibilität, Zweckmäßigkeit und Abstraktion artikulierten und sich in einer ungewöhnlich hohen Anzahl gebauter Beispiele widerspiegeln.(2) Zugleich forcierte man im Ruhrgebiet, vor allem im 1949 eröffneten Dortmunder Museum am Ostwall, den zeitgenössischen Diskurs durch die Präsentation und Wiedereinführung von Architektur-Avantgarden und städtebaulichen Konzeptionen des frühen 20. Jahrhunderts.
Durch komplexe Eingriffe am alten Baukörper: Baukunstarchiv NRW wurde zu einem Lichthof
Ein Lichthof der Transparenzen. Das heutige Baukunstarchiv NRW (#Miniatur Baukunstarchiv), das zum vorgenannten Arsenal einstiger industrieller Infrastruktur zählt, erlangte über die Zeit durch eine Reihe vorgenommener Perforationen transparente Eigenschaften.
Der 1875 als Landesoberbergamt eröffnete massive Klinkerbau wurde bereits 1911 zum Städtischen Kunst- und Gewerbemuseum umgewandelt. Dadurch erfuhr das Bauwerk einen der prägnantesten und nachhaltigsten Eingriffe in seiner Geschichte: die Verbreiterung und Glasüberdachung des ursprünglich zweckmäßig klein angelegten Innenhofs. Mit nur acht Schritten und fünf Stufen erreichte man vom geschäftigen Wallring von nun an das Herz des Hauses, den Lichthof. Der in seinem Äußeren monolithisch wirkende Baukörper zeigt sich in seinem Inneren, wie von Licht ausgehöhlt, entmaterialisiert (Abb. 1).
Dieser Eingriff erweist sich jedoch in seinen räumlichen Auswirkungen als weit komplexer. Durch das Stülpen des Hofes nach innen wird eine zuvor außenliegende Fassade zu einer inneren. Durch den Teilrückbau von Wänden zur Verbreiterung des Lichthofes werden zuvor tieferliegende Räume sichtbar und mit neuen Situationen räumlich konfrontiert und zusammengefügt. Hinter den Laibungen der ehemaligen Fensteröffnungen und weiteren vorgenommenen Perforationen der Lichthofwände, erfährt der Raum eine Gliederung in unterschiedliche Tiefen.
Graduelle Überlagerungen von einem Geschehen, das sich vor und auf den Flächen der Lichthofwände hervorhebt, und tieferen Schichten, die sich durch Einblicke durch die Perforationen hinter der Lichthofwand fragmentiert andeuten, erzeugen räumliche Qualitäten von Simultanität und Ambivalenz, die als eine Form übertragener Transparenz klassifiziert werden können; in der Art, wie sie Colin Rowe und Robert Slutzky in ihrem Essay »Transparency« exemplarisch vorgenommen haben.
Beobachtungen an Gemälden auf die Architektur übertragend, sehen sie in der großflächigen Verglasung des Werkstattflügels des Dessauer Bauhausgebäudes von Walter Gropius eigentliche Transparenz thematisiert, welche dahinterliegende tektonische Elemente eindeutig zu erkennen gibt (Abb. 2).
Wiederaufnahme Ausstellungstätigkeit in Dortmund – Leonie Reygers als Direktorin vom Museum am Ostwall
Bei Le Corbusier hingegen sehen sie eine durch kubistische Verfahren hergeleitete Transparenz ins Architektonische übersetzt – die anhand tektonischplastischer Elemente räumliche Schichtungen und Gliederungen vornimmt, indem sie in einer Frontalansicht zu einer definierten Bezugsebene räumlich in Beziehung zueinander gesetzt werden und den Raum in Fragmentierungen transparent wiedergeben (Abb. 3).
In dieser Einordnung hat der Lichthof des Baukunstarchivs mit den vorgenannten durch den Rückbau entstandenen neuen räumlichen Konfrontationen und Gefügen, Qualitäten eines fragmentierten Raumes mehrdeutiger Transparenz im übertragenen Sinne erlangt.
Die räumlich-transparenten Eigenschaften von Simultanität und Ambivalenz wusste Leonie Reygers, die Direktorin des 1949 eröffneten Museums am Ostwall, in der Nachkriegszeit gekonnt auszuschöpfen und programmatisch zu erweitern.
Aus dem perforierten Lichthof der Transparenz heraus und noch inmitten des Kriegsruinenzustands thematisierte sie in zahlreichen Ausstellungen und Veranstaltungen zeitgenössische Kunst, Architektur, Industrielle Werkform und Kunsthandwerk und suchte die »entarteten« Avantgarden der Vorkriegszeit nun der Nachkriegsgesellschaft (wieder) nahezubringen. Der Lichthof des Museums am Ostwall wurde zum Forum der Wiedereinführung der Modernen der Architektur und des Städtebaus der Vorkriegszeit.
1949 wurde die Ausstellungstätigkeit in einem teilwiedererrichteten Bereich begonnen. Noch vor ihrer ersten thematischen Kunstausstellung zeigte Reygers vom 15.3.–6.4.1949 eine erste Architekturausstellung im Lichthof inmitten der kriegsgezeichneten Museumsruine: die »Französische Architektur- und Städtebauausstellung« (Abb. 4).
Die von der Französischen Militärregierung bereitgestellte und durch eine Initiative von Bertrand Monnet organisierte Schau tourte ab 1948 durch westdeutsche Großstädte.(3)
Das großangelegte Ausstellungsprojekt sollte »eine noch nie dagewesene Synthese der französischen Architektur und des Städtebaus in seiner Gesamtheit zeigen«(4) und verstand sich als Gegenpol zur gleichzeitigen, durch die Amerikanische Militärregierung organisierten MoMa-Ausstellung »In USA erbaut – 1932–1944« (Abb. 5).
Die aus Schautafeln und Modellen zusammengesetzte Schau zeigte in einer ersten Abteilung eine Retrospektive französischer Beiträge zur Baugeschichte, um im Weiteren hauptsächlich die französischen reformistischen Bestrebungen der Zwischenkriegszeit zu akzentuieren. Eines der zentralen Anliegen des Projekts war es, die dem deutschen Publikum weniger bekannte »Charta von Athen«, »die heute fast überall befolgt wird, ausführlich wiederzugeben«.(5)
Internationaler Kongress moderner Architektur 1933 in Athen: es dominiert Funktionalismus
Die in einem anderen lichtdurchfluteten Hof 16 Jahre zuvor im neoklassizistischen Atrium der Technischen Universität von Athen während des IV. CIAM – Congrès Internationaux d’Architecture Moderne verhandelten Thesen entstanden als Kritik an der Stadt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Der IV. CIAM, der am 29.7.1933 mit einer legendären Schiffspassage von Marseille nach Piräus eröffnete, kann zu den folgenreichsten und durchaus missinterpretierten Momenten der Architekturgeschichte gezählt werden.
Seit der Gründung 1928 hatten der CIAM die Belange der modernen Architektur endgültig zu einer internationalen Angelegenheit erhoben, die – in einem Wechselspiel mit durch nationale Gruppen eingebrachten, als international relevant klassifizierten Standpunkten und Themen – in Kongressen verhandelt wurden. Der IV. CIAM »Die Funktionelle Stadt« sollte nun die Sphäre der Internationalen Moderne auch um die Belange der Stadt erweitern.
Die monierten Verhältnisse in den europäischen Städten, die gefangen in vornehmlich beengter vorindustrieller Bausubstanz mit Industrialisierung und Motorisierung nicht Schritt halten konnten,(6) wurden anhand kartenbasierter Bestandsaufnahmen zu 34 Städten analysiert. Eine Verbesserung der Lebensverhältnisse mit Garantie von Luft, Licht, Raum und Grün für alle sollte durch eine aus dem Bestand heraus entwickelte Zonierung der Stadt nach Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr erfolgen.(7)
Durch Abwesenheit wichtiger Stimmen aus Deutschland wie von Hannes Mayer und Walter Gropius wurden im Kongress soziale und politische Aspekte des Städtebaus ausgeblendet und durch den Funktionalismus, wie ihn Le Corbusier vertrat, dominiert. Le Corbusier veröffentlicht in Folge eigenmächtig zu Kriegszeiten 1943 in Paris anonym, als Le Groupe CIAM-France, die Ergebnisse des IV. CIAM und goss sie in manifestartiger redigierter Form zur »Charta von Athen« – die Funktionelle Stadt,(8) welche unter diesem Titel in der Nachkriegszeit, Bekanntheit erlangen sollte. Unter Missachtung des in Athen empfohlenen bestandsbasierten Vorgehens wurde daraus ein Regelwerk, das eine klare Zonierung der Stadt nach »Funktionen« vorsah.
Er konditionierte somit die Rezeptionsgeschichte des IV. CIAM als »Charta von Athen«, die im Anschluss international folgenreiche Auswirkungen auf die Entwicklung der Städte haben sollte und deren Bewertung die Baugeschichte bis heute beschäftigt. Dem deutschen Publikum wurden die manifestartig formulierten Thesen in einer Situation präsentiert, als die monierten Missstände der historischen Stadt nun größtenteils als Kriegsruinen um sie herum in Trümmern lagen. Sie beeinflussten in der Folge viele autogerechte und aufgelockerte Stadt- und Verkehrsplanungen, wie sie etwa in Dortmund im verkehrsgerechten Umbau des Wallrings erfolgte.
Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich unter dem vielfältigen Dach der Architektur
Zusätzlich zur baugeschichtlichen Retrospektive und der Präsentation der »Charta von Athen« zeigte die Schau Konzeptionen zum Wiederaufbau kriegszerstörter französischer Städte: etwa Le Corbusiers Planungen für La Pallice nach den »Charta«-Leitlinien oder August Perrets Pläne für Le Havre, in denen Baumassen in moderner Formensprache Stadtraum, wie Straßen und Plätze, in tradierter Weise formten. Ergänzend wurden Konzeptionen zu Inneneinrichtungen, Möbel und Wandteppiche präsentiert.
In dieser Synthese war die Dortmunder Schau im Geiste der Museumsleiterin Leonie Reygers, die stets alle Bereiche des Lebens und der Kunst unter dem Dach der Architektur zu vereinen suchte. Der Dortmunder Stadtrat Dr. Delfts attestierte in seinem Grußwort zur Eröffnung im Beisein zahlreicher Vertreter des öffentlichen Lebens und der Behörden dem Vorhaben, einen Beitrag zu leisten, »die Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich (wieder-)herzustellen, die unbedingt nötig sei«(9).
Für Alfons Leitl, der nach einem Besuch der Schau 1949 in Köln für die Zeitschrift »baukunst und werkform« einen Bericht verfasste, zählte sie zu den »aufregendsten und anstrengendsten Veranstaltungen«(10) seit Kriegsende.
Bauhaus-Debatte in der Bundesrepublik ist vor alleim ein Streit um Deutungshoheit der Moderne
Mit Anbruch des Jahres 1953 wurde mit Veröffentlichung des Aufsatzes von Rudolf Schwarz »Bilde Künstler, rede nicht«(11) in der Bundesrepublik die Bauhaus-Debatte ausgelöst. Mit einem frontalen Angriff, der Walter Gropius und den »begnügte[n] Kubisten« des Bauhauses galt, die ihr Glück im Bau von »Glaswürfel[n]«, die sie »funktionalistisch ausrechnen«(12), suchten, entfachte Schwarz einen Streit um die Deutungshoheit der Moderne in der Bundesrepublik. Aufgrund der Wortwahl und der unsachlichen Form des Angriffs des konservativen Architekten Schwarz solidarisierten sich die meisten Architekten mit Gropius; in der Folge wurde die Debatte um andere Auslegungen der Moderne beendet.(13)
Inmitten des hitzig verlaufenden Streits zeigt Leonie Reygers vom 6.–30.6.1953 die Ausstellung »Walter Gropius – Ein Weg zur Einheit künstlerischer Gestalt«(14) (Abb. 6). Gropius sowie die Mehrzahl der Bauhaus-Mitglieder waren nach den politisch motivierten Schließungen der Schulen in Weimar, Dessau und Berlin ins amerikanische Exil getrieben worden.
Die Bauhausrezeption in den USA wurde jedoch schon vor dem Eintreffen der Exilanten eingeleitet. Das durch HenryRussell Hitchcock und Philip C. Johnson kuratierte MoMa-Ausstellungsprojekt »Modern architecture: international exhibition«(15) von 1932 nahm eine Kanonisierung des Bauhauses und anderer moderner Strömungen vor und vereinte sie zu einer weißen und gläsernen Moderne unter dem kaum differenzierenden Überbegriff International Style (Abb. 7).
Gropius und das Bauhaus: weniger Stil denn vielmehr eine Haltung zur Welt
Die Stilisierung und Simplifizierung führte in den USA zu einer weit verbreiteten Aneignung, galt dieses Formen-Repertoire der Transparenzen und der zweckmäßigen Abstraktion doch als Sinnbild einer fortschrittsorientierten rationalen und weltoffenen Gesellschaft. Die Wiedereinführung des Bauhauses im Westteil Nachkriegsdeutschlands erfolgte in einem Klima dynamisierter USA-Orientierung, als Erfindung eines demokratischen Deutschlands der Weimarer Republik und in der stileinordnenden Rezeption, wie sie in Übersee vorgenommen wurde.
Die Ausstellung am Ostwall ist als Versuch einer korrigierenden Annäherung zu bewerten, welche die Ideen Gropius´ und das Bauhaus in der Art präsentierte, wie sie während dessen Direktorenschafft praktiziert wurden – als Haltung und keineswegs als Stil.
Neben einer Reihe von Projekten, die nach der Schwarz’schen Einordnung unter die Kategorie »Glaswürfel« und »Glaskisten« fallen, wie das Fagus-Werk (1911) und das Dessauer Bauhaus-Gebäude (1925), zeigte die Schau zudem die Meisterhäuser in Dessau (1925), das »Totaltheater« für Erwin Piscator (1927), die Werkbundausstellung in Paris (1930), in den USA ab 1938 realisierte Wohnhäuser, das Harvard Graduate Center (1949) sowie Möbel und Leuchten-Entwürfe. Mit Manifest, Gestaltunglehre und studentischen Projekten war eine große Abteilung der Bauhauslehre gewidmet.
Zur Eröffnung hielt der aus Düsseldorf angereiste Ministerialdirektor im Wiederaufbauministerium NRW, Dr. Konrad Rühl, eine Rede. Für Leonie Reygers zählte neben dem »Blauen Reiter« und der Künstlergruppe »Brücke« das Bauhaus zu den wichtigsten Vertretern der deutschen Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.(16) Zu seinen Errungenschaften zählte sie die Idee der Vereinigung aller Künste unter der Leitung der Architektur zur Gestalt des Bauwerks der Zukunft, eine Renaissance der Idee der mittelalterlichen Bauhütte, die sie auch in ihrem Museum praktizierte. Des Weiteren stellte sie fest, dass das Bauhaus »nicht tot sei, sondern seine Früchte in mannigfaltiger Weise weiterleben«.(17)
Musiktheater im Revier von Werner Ruhnau: Durchdringung von Transparenz und Raumstrukturen
Hommage an die Glaskiste: Arbeiten am Transparenzbegriff. Dass die Ideen des Bauhauses nicht tot waren, sondern in den 1950er Jahren lebendige Inspirationsquelle wurden, davon zeugt ein anderes Projekt im Ruhrgebiet, das den Anspruch des Zusammenwirkens der Künste unter dem Dach der Architektur prominent zelebrierte.
Werner Ruhnau, Architekt des 1959 erbauten Musiktheaters im Revier, versammelte Experten, Ingenieure, Techniker und Internationale Künstler wie Yves Klein, Jean Tinguely, Robert Adams, Norbert Kricke, Paul Dierkes um sich und schuf eine moderne Version der Bauhütte Gelsenkirchener Ausprägung. Der kreative Entstehungsprozess und die Art, wie die Anforderungen der Aufgabe in Raumkonzeptionen der Transparenz überführt wurden, zeugen von einer Haltung Gropius’schen Bauhauses.
Ruhnau erschuf einen weltweit vielbeachteten Theaterneubau (#Miniatur Musiktheater im Revier; #Essay Im Wettbewerb), in dessen Zentrum eine »Glaskiste« steht – in der Art, wie sie Rudolf Schwarz 1953 kritisierte. Indem der Architekt die gläserne Kiste um eine Etage über Straßenniveau hebt und sie auf einen leicht zurückspringenden anthrazitfarbenen Sockel positioniert, wirkt sie aus der Fußgängerperspektive erhaben, über dem gepflasterten Teppich der Stadt schwebend.
Im Gegensatz zu Gropius, der den Dessauer Werkstattflügel mit gläsernen Ecken ausstattet, um vor allem die frei in den Raum ragenden Atelieretagen zu inszenieren, nimmt der Architekt hier eine kontrastreiche Einrahmung der Glasfront vor und lenkt den Blick fern von der gläsernen Oberfläche tief hinein in das Innere des Hauses (Abb. 8).
Die speziell für das Haus produzierte Kunst erfüllt hier keinen vermeintlich dekorativen Zweck, sondern wirkt in einer Verschmelzung mit architektonischen Elementen raumkonstituierend: Sie definiert, formt, organisiert, gliedert und veredelt Raum. Schon der Zugang zum Haus erfolgt durch ein Kunstwerk.
Nähert man sich dem Theater in der Frontalansicht von der Ebertstraße, wird Robert Adams’ vorgelagertes Betonrelief sichtbar, hinter welchem wie an einem steinernen Paravent die Theatergäste scheinbar verschwinden, um über die transparente halbzylindrische Treppenanlage auf der Ebene des Hauptfoyers wieder aufzutauchen und von den auf Stützen aufgestellten, raumhoch inszenierten blauen Schwammreliefs von Yves Klein umschlossen zu werden.
Dass der Interpretationsspielraum des Begriffs Transparenz in klaren Klassifizierungen, wie sie im von Rowe und Slutzky 1955/1956, gleichzeitig zur Bauzeit des Musiktheaters verfassten Aufsatzes »Transparency« vorgenommen wurde, nicht ausgeschöpft ist, zeigt dieses Projekt, das in seiner prozesshaften Entstehungsgeschichte um das Erzeugen räumlicher Qualitäten bemüht ist, die einem aktiven Arbeiten am Begriff der Transparenz gleichkommen.
Vor und hinter einer vermeintlich durchsichtigen Glasfassade eindeutiger physischer Transparenz wird eine vielschichtige, komplexe und gegliederte Transparenz aufgebaut, die durch räumliche Überlagerungen mehrdeutig und ambivalent erscheint und die erst durch die Bewegung im Raum erschlossen wird. Die transparente Oberfläche des gläsernen Schaufensters wird zur Referenzebene von einem Vorgelagerten, wie das die Eingangsfigur formende Relief und die dahinterliegenden tektonischen Schichten, die mit der Kunst verschmelzen und begehbare Raumstrukturen erzeugen.
Gelsenkirchen goes America: »The new theatre in Germany« meets Pepsi-Cola in NY
In dieser Hinsicht haben wir es hier mit zwei simultanen Milieus von Transparenzen zu tun, die an der transluziden Oberfläche der Glaskiste generiert werden – eindeutige und mehrdeutige Transparenz. Der Gelsenkirchener Theaterbau erlangte gleich zur Eröffnung 1959 internationale Reputation.
Die New York Times bezeichnete in einem ausführlichen Bericht den Bau als »festive and glamorous«(18), und die britische Sunday Times gar als »the most advanced – and satisfactory – in the world«(19). Es folgten Einladungen zur Teilnahme an Ausstellungen wie in Paris, Wien und 1961 in New York.
Zur Vernissage der Ausstellung »The new theatre in Germany« am 5.2.1961 luden die Veranstalterinnen, der Hollywoodstar Joan Crawford Steele und die Mitbegründerin des New York City Center Theatre Jean Dalrymple mehr als 750 Gäste ein; unter ihnen Berühmtheiten wie Marlene Dietrich, Gloria Swanson, John Steinbeck, Henry Fonda oder Otto Preminger.
Das amerikanische Publikum zeigte großes Interesse an den Entwicklungen des Neuen Deutschen Theaters, sowohl an Produktion wie auch den zahlreichen Theaterneubauten, die in Deutschland der 1950er Jahre realisiert wurden (Abb. 9).
Die Popularität moderner Architektur in Bauhaus-Prägung seinerzeit lässt sich nicht ausdrucksvoller beschreiben als mit einem Foto der hinter dem Modell des Gelsenkirchener Musiktheaters euphorisch posierenden Schauspielerin Joan Crawford (Abb. 10).
Mit der New Yorker Ausstellung wurde, nach den Jahren des Architektur-Rücktransfers aus Übersee, zeitgenössische Architektur, die im Deutschland der Nachkriegszeit konzipiert wurde, dem amerikanischen Publikum präsentiert. Die Einzigartigkeit des Projektes liegt in den multiplen Qualitäten von Transparenz, die es über ein gläsernes Schaufenster in Verschränkungen von Stadt und Theaterraum erzeugt; einer Art Fortentwicklung der Bauhaus-Idee.
Transparenz et al. in der Kulturlandschaft Ruhr
Die hier beschriebenen Qualitäten von Transparenz, Niederschwelligkeit und Offenheit werden auch in vielen weiteren Kulturbauten des Ruhrgebiets baulich verhandelt. Mit ihren individuellen Architekturen finden sie sich wie städtische Stellvertreter moderner Strömungen ihrer Zeit kontextualisiert in einer übergeordneten Kulturlandschaft Ruhr wieder. In ihnen wurden Themen der freiheitlich demokratischen Gesellschaft räumlich artikuliert und in Architekturen überführt, die das Gesellschaftliche in Beziehung zum Städtischen suchten und in physisch materielle oder übertragen anzueignende Transparenzen übersetzten.
Anmerkungen:
(Die jeweiligen Texte des mit zahlreichen Bildern aus Archivbeständen des Baukunstarchivs NRW illustrierten Bands übernehmen wir – leicht gekürzt […] und zum Zwecke besserer Lesbarkeit teils mit eingefügten Zwischenüberschriften versehen – ansonsten wörtlich.)
(1) Paul Scheerbart, CXI – Die Glaskultur, in: Paul Scheerbart, Glasarchitektur, Berlin 1914, S. 125.
(2) Vgl. Thorsten Scheer, Kein Bauhaus im Westen!? Abstraktion, Stilisierung und die Bonner Republik, in: Thorsten Scheer (Hg.), Neues Bauen im Westen, Köln 2019, S. 104–114.
(3) Die Ausstellung wurde vom Bureau de l’Expansion Artistique (Division de l’Éducation Publique) Commandement en Chef Français en Allemagne durch eine Initiative von Bertrand Monnet organisiert. Sie tourte ab 1948 zunächst durch die Städte der französischen Besatzungszone Freiburg, Mainz sowie Trier und wurde ab 1949 außerhalb dieser Zone in Köln, Dortmund, Hannover, Stuttgart, München sowie Friedrichshafen gezeigt.
(4) Zitiert nach: Jean-Louis Cohen/Hartmut Frank/Volker Ziegler (Hg.), Ein neues Mainz? Kontroversen um die Gestalt der Stadt nach 1945, Berlin/Boston 2019, S. 35.
(5) Bertrand Monnet, Einführung, in: Französische Architektur- und Städtebauausstellung –
1948/49, Ausst.-Kat. hg. von Bertrand Monnet im Auftrag des Bureau de l’Expansion Artistique (Division de l’Éducation Publique), Rastatt 1948, S. 7.
(6) Zusammenfassung des Vortrags »Air-Son- Lumière« von Le Corbusier, den er am 3.8.1933 in der Technischen Universität von Athen hielt, protokoliert in: Technika Chronika 2 (1933), H. 4, S. 1012–1017.
(7) Die Ergebnisse der Konferenz sind in den Technika Chronika der griechischen Ingenieurs kammer protokoliert, welche den Kongress in Athen für alle Beteiligten dokumentierte.
(8) Als Herausgeberin hat er fälschlich die französische CIAM-Gruppe »Le Groupe de CIAM-France« angegeben.
(9) Bekanntmachungen der Stadt Dortmund, Nr. 11, 19. März 1949.
(10) Zitiert nach: Cohen/Frank/Ziegler, Ein neues Mainz?, S. 37.
(11) Rudolf Schwarz, Bilde Künstler, rede nicht, in: baukunst und werkform 6 (1953), H. 1, S. 9 ff.
(12) Schwarz, Bilde Künstler, rede nicht, zitiert nach: Ulrich Conrads et al. (Hg.), Die BauhausDebatte 1953 – Dokumente einer verdrängten Kontroverse, Braunschweig/Wiesbaden 1994, S. 44.
(13) Vgl. Winfried Nerdinger, Walter Gropius – Architekt der Moderne, München 2019, S. 332–335.
(14) Die Ausstellung wurde vom Institute of Contemporary Art, Boston und der Smithsonian Institution, Washington D.C. organisiert.
(15) Die Ausstellung »Modern architecture: international exhibition«, oft nur als »The International Style« wiedergegeben, war vom 12.2.– 3.3.1932 im MoMa in New York zu sehen.
(16) German watercolors, drawings and prints: A midcentury review with loans from German museums and galleries and from the collection Dr. H. Gurlitt, Ausst.-Kat. hg. von The American Federation of Arts, Dortmund 1956, S. 9.
(17) German watercolors, drawings and prints, S. 9 (Zitat übersetzt aus dem Englischen durch den Autor).
(18) Edward Downes, A Baedeker of opera houses, in: New York Times, 24.7.1960 o. S.
(19) The Sunday Times, 12.05.1963, o. S. (ohne Autor), Zeitungsausschnitt, Bestand Ruhnau, Baukunstarchiv NRW.
Weitere Informationen:
Link zur Veröffentlichung beim Verlag Kettler in Dortmund; hier:
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