Von Clemens Schröer
Berührend, emotional, bewegend und teilweise auch schmerzhaft: Das Gedenken an die nationalsozialistischen Übergriffe gegen deutsche Juden. Anlässlich des 76. Jahrestages der Pogromnacht am 9./10. November 1938 lud die Stadt in das Opernhaus zum trauernden und mahnenden Gedenken ein. Rund 250 Gäste waren gekommen. Schülerinnen und Schüler der Musikschule Dortmund umrahmten die Veranstaltung musikalisch.
„etwas zerbrach“ – theatral-musikalische Aktion der Jugendclubs des Theater Dortmund
Den Auftakt bildete eine berührende theatral-musikalische Aktion der Jugendclubs des Theater Dortmund auf dem Platz der Alten Synagoge.
Unter dem Titel „Verlorene Kinder“ beleuchteten die jungen Schauspieler in ihren kurzen Texten die historische NS-Verfolgung und die Flucht davor, die Angst und die Trauer um den Verlust der Heimat, die Einsamkeit in der Fremde, die Erschütterung menschlichen Grundvertrauens: „das in mir etwas zerbrach, ich weiß nicht, was es war“, hieß es im Refrain.
Die Aktion schlug vor diesem Hintergrund aber auch den Bogen in die Gegenwart: Die Jugendlichen prangerten die heutigen Verfolgungen in vielen Ländern an und eine oft unbarmherzige Flüchtlingspolitik bei uns, als hätten wir nichts gelernt.
Sie appellierten an die versammelten Bürger, die schwer geprüften Flüchtlinge willkommen zu heißen, hilfsbereit zu sein und auch den ganz persönlichen Kontakt zu suchen, damit sie über ihren Verlust vielleicht hinwegkommen und bei uns heimisch werden können.
Nazis zerstörten 1938 die große Synagoge – sie war eine „Zierde der Stadt“
Auch Oberbürgermeister Ullrich Sierau und später der Theatermacher Gerd Buurmann gingen in ihren Reden auf die Geschichte ein, ehe sie daraus Schlüsse für unsere heutige Zeit zogen.
Sierau widmete sich zuerst der alten Dortmunder Synagoge. Im Juni 1900 eröffnet, war sie Ausdruck eines blühenden Gemeindelebens, einer gelungenen Emanzipation und Integration des deutschen Judentums.
Der damalige Oberbürgermeister Wilhelm Schmieding sprach stolz von einer „Zierde für die Stadt“ und wünschte sie sich „für Jahrhunderte erbaut“. Stattdessen begann nach der Machtergreifung der Nazis 1933 im Oktober 1938 der Abriss eines der größten jüdischen Bethäuser Deutschlands.
Sierau kritisierte die „menschenverachtende und verbrecherische Gesamtstrategie“
Dies war, so Sierau, „Teil einer menschenverachtenden und verbrecherischen Gesamtstrategie der Nazis gegen Menschen jüdischen Glaubens.“ Deshalb seien auch die Novemberpogrome keineswegs spontane Aktionen des „Volkszorns“ gewesen, wie er durch einschlägige Zitate des Hitler-Vertrauten und NS-Propagandaministers Goebbels nachwies.
Mit den Pogromen radikalisierte sich die Nazi-Politik von Verdrängung und Vertreibung der Juden zu direkter Gewalt und Vernichtung. Bei den Pogromen selbst wurden mehrere hundert „jüdische Männer und Frauen angegriffen, verhaftet, in Konzentrationslager verschleppt – und sogar getötet“, mehrere hundert Synagogen und andere jüdische Werte zerstört, so der OB.
In den nachfolgenden Tagen steigerte sich die Repression, 30.000 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger wurden in KZs deportiert, viele fanden dort den Tod.
Sierau war entsetzt, dass dies vor aller Augen geschah, schlimmer noch, dass die „Mitte der Gesellschaft“ dies zugelassen oder an den Verbrechen mitgewirkt hat. Mit diesem Gedanken leitete der Oberbürgermeister zu den Lehren der Geschichte für unsere heutige Zeit über.
Deutsche Verantwortung: „Ein Wegschauen wie damals darf es nie mehr geben“
Ein Wegschauen wie damals dürfe es nie mehr geben, solche Verbrechen dürften sich niemals mehr wiederholen, das Leid der jüdischen Bevölkerung dürfe niemals in Vergessenheit geraten, dies bleibe stete deutsche Verantwortung, von einer Generation an die nachfolgende weitergegeben.
Sierau verkniff sich an dieser Stelle nicht einen Seitenhieb auf Helmut Kohls berühmt-berüchtigte „Gnade der späten Geburt“.
Historische Erinnerung und kämpferische Sensibilität gegenüber heutigen Tendenzen der Menschenfeindlichkeit bedingten einander, solle unsere Gesellschaft vielfältig, tolerant und demokratisch sein. Daran werde in Dortmund erfolgreich gearbeitet, prominente Beispiele für eine lebendige Erinnerungskultur seien die Mahn- und Gedenkstätte „Steinwache“, das Karfreitagsgedenken in der Bittermark und auch das Engagement der mittlerweile 140 „Botschafterinnen und Botschafter der Erinnerung“, zu denen junge Menschen sämtlicher Glaubensrichtungen gehörten.
Neonazis störten die Gedenkfeier am jüdischen Mahnmal in Dorstfeld
Wie bitter notwendig es bleibe, „aus der Geschichte zu lernen und zu vermitteln, wie man heutige rechtsextreme Agitation, wie man Rassismus und Antisemitismus erkennen und ihnen begegnen kann“, zeigten aktuelle Beispiele für rechtsextreme Umtriebe. So hätten gerade am heutigen 9. November Neonazis die Gedenkstunde am jüdischen Mahnmal in Dortmund-Dorstfeld zu stören versucht.
Am 26. Oktober 2014 habe unter dem Titel „Hooligans gegen Salafismus“ mit ca. 4.500 Teilnehmern die „größte rechtsextreme Versammlung in Deutschland seit Jahren“ stattgefunden. Der Kampf „für Vielfalt, Toleranz und Demokratie und gegen Faschismus, Rassismus und Antisemitismus“ müsse also weitergehen, auch dem scheinbar harmlos daherkommenden „alltäglichen Rassismus“ müsse man energisch begegnen, schloss Sierau seine Rede.
Jüdischer Theatermacher legte den Finger in weitere Wunden
Für die Jüdische Kultusgemeinde Dortmund sprach anschließend der in Köln lebende Theatermacher Gerd Buurmann: Er legte den Finger in weitere Wunden, hatte aber ganz wenig Balsam parat, vor allem für die „Vergangenheitsbewältiger“.
Diese täten so, als seien alle Hausaufgaben gemacht, Rassenhass und Antisemitismus ein Phänomen vergangener Zeiten: erforscht, erklärt, erinnert; aufrichtiges Mitleid mit den damals getöteten Juden; tiefe Abscheu gegenüber den zumeist längst verstorbenen Tätern und den hundserbärmlichen Zuschauern und Wegsehern; Monumente des Bewältigungsstolzes wie das Holocaust-Mahnmal von Berlin, von dem man sich wünschen dürfe, dass die „Leute gerne dorthin gingen“ (Altbundeskanzler Schröder), und wegen dem uns „andere Länder in Europa beneideten“ (Historiker Eberhard Jäckel). Ja, was will man mehr?
Fokus auf die lebenden Juden von heute und deren Feinde
Sie hätten die Gegenwart vergessen, die lebenden Juden von heute und deren Feinde, meint Buurmann – er ist selbst kein Jude: „Seit über 60 Jahren sieht sich das kleine demokratische Land Israel von Feinden umzingelt, die einen Krieg führen, an dessen Ende die Radikalen von der Hamas die Vernichtung aller Juden fordern, während die sogenannten Gemäßigten von der Fatah nur die Vernichtung des Staates Israels in Aussicht stellen. Seit Jahrzehnten muss sich Israel gegen seine Vernichtung verteidigen.“
Hier sei unsere Solidarität gefragt: „Vielleicht sparen wir uns in den nächsten Jahren einfach mal ein paar Kränze für tote Juden und laden dafür öfter lebendige ein. Juden lieben das Leben.“
Kritik an islamistischen Fanatikern, Rechtsextremen und Linken
Stattdessen zögen neben islamistischen Fanatikern und den Rechten auch nicht wenige Linke aus dem Holocaust eine abenteuerliche Lehre. Israels Selbstverteidigung sehen sie als peinlich-tragische Form der Wiedergängerei Hitlerscher Aggressionspolitik, also klassischen Fall unbewältigter Vergangenheit.
Dem antwortete Buurmann mit scharfen Worten: „Israel zu kritisieren, weil das Land die Absichtserklärung der Feinde, alle Juden zu vernichten, ernst nimmt, ist so geschmacklos, wie die revoltierenden Juden im Warschauer Ghetto zu kritisieren, weil sie sich gewehrt haben und dabei töten mussten.“
Schmerzliche Erfahrungen mit der vielfältigen Wiederkehr der Judenfeindschaft
Doch eigentlich wäre es Buurmann lieber, den Holocaust nicht dauernd im politischen Tageskampf zu instrumentalisieren: „Der Holocaust ist … ein unvergessbares und unverzeihliches Verbrechen, aus dem es nichts zu lernen gibt! Was soll uns denn der Holocaust gelehrt haben? Dass man Menschen nicht millionenfach vergast? Dass Juden auch Menschen sind? Dass man lieb zueinander sein sollte? Dass man sich wehren darf, wenn man verfolgt wird? Dass man Menschen, die andere Menschen vergasen, den Krieg erklärt? Dass man wahnsinnige Menschen mit allen Mitteln entwaffnet? All das sollte man auch ohne Holocaust wissen!“
Gleichwohl, die schmerzlichen Erfahrungen mit der vielfältig schillernden Wiederkehr der Judenfeindschaft ließen Buurmann mit dem Appell schließen: „Gebt unseren Kindern und Enkeln keine Zukunft, in der sie unsere Gegenwart als Vergangenheit bewältigen müssen.“ Man hätte eine Stecknadel fallen hören in diesem Moment.
Bewegende Zeitzeugnisse – Gedenkbuch erinnert an die Dortmunder Juden
Damit war der Diskurs über das richtige Gedenken beendet, es folgten berührende historische Beispiele: Stefan Mühlhofer, Direktor der Steinwache und des Stadtarchivs, stellte das „Gedenkbuch ehemaliger Dortmunder Jüdinnen und Juden 1933-1945“ vor, das der Historiker Rolf Fischer federführend erstellt hat und das am 27. Januar 2015, zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, erscheinen wird. Es enthält jetzt 2.078 Namen mit Fotos und biographischen Angaben sowie einen erläuternd-einordnenden Darstellungsteil. Ein Buch, das in keiner Dortmunder Bibliothek fehlen sollte.
Die Dortmunder Schauspielerin Bettina Zobel trug aus den Erinnerungen des jüdischen Zeitzeugen Hans Herzberg vor, der die Pogromnacht in der Dortmunder Münsterstraße erlebte: den Hausfriedensbruch, die Gewalt durch den SA-Mob, den Vandalismus und die Beraubungen, das öffentliche Verbrennen von Judaica, die Qualen in der Steinwache, die Deportation und das fünfwöchige Martyrium im KZ Sachsenhausen.
Gewalt in den Straßen – vor den Augen der Anwohner in Dortmund und Zamosc
Dann lenkte sie den Blick auf das Ghetto Zamosc, für viele Dortmunder Juden letzte Station vor ihrer Ermordung. Ruth Bauernschmidt berichtete in einem Brief vom 16. Juni 1942 von den unglaublichen hygienischen Zuständen dort, den Krankheiten, fehlenden Medikamenten, den völlig überteuerten Lebensmitteln, der lebensverlängernden, vielleicht -rettenden Zwangsarbeit. Am Ende versagte Bettina Zobel die Stimme.
Die Schauspielerin Tirzah Haase trug aus einem Schreiben des Zeitzeugen Kurt Bartels an einen ihrer Verwandten vor, der im KZ Stutthof, nahe Danzig, inhaftiert gewesen war. 1,5 Kilometer entfernt vom KZ wohnte Bartels, der alles mitbekam, was dort geschah, sich noch immer dafür schämte und um Verzeihung bat.
Die Mordtat eines SS-Mannes, der am 23.12.1942 vor seinen zwei vorbeiziehenden KZ-Häftlingen mit dem Spaten den Schädel spaltete, weil sie nicht mehr weiter konnten, und seine hilflose Wut deswegen, überwältigten ihn noch Jahrzehnte später, wenn Weihnachten wieder nahte.
Zum Abschluss sprach Rabbiner Avichai Apel ein Gebet. Mit der Kranzniederlegung auf dem Platz der alten Synagoge endete die Gedenkveranstaltung. Sie dürfte den Teilnehmern noch lange nachgehen.