Ist die Würde des Menschen doch antastbar? – Scharfe Kritik an GroKo-Plänen zu Hartz-IV-„Anpassungen“ in Dortmund

Hartz-IV bedeutet Armut. Die aktuellen Pläne der Bundesregierung deren Verstetigung. Foto (3): Alex Völkel

Anlass der bundesweiten Proteste ist die bevorstehende Abstimmung im Bundesrat über ein typisch rechtsdeutsches Sprachmonstrum, das da heißt: Änderung des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes (RBEG). Festgehalten werden darin die Pläne der Bundesregierung, wie die Leistungen für Menschen in Hartz-IV, Sozialhilfe und Geflüchtete 2021 „angepasst“ werden sollen. – Streitpunkt ist die Anhebung der Regelsätze zur Sicherung des individuellen Existenzminimums. Ergo: was Menschen zwingend zum Lebensunterhalt benötigen. Und das wurde – zumindest in den Augen sozial engagierter Akteure wie des Dortmunder DGB oder des Paritätischen – mal wieder systematisch kleingerechnet. Herausgekommen ist für sie eine Unverschämtheit. – Da ist kein Mangel an drastischen Worten, wenn sie Stellung beziehen: „Unter aller Sau“, lautet das Urteil von Jutta Reiter (DGB Dortmund), „skandalös“ schlussfolgert Gunther Niermann vom Paritätischen. Heute und Samstag  wollen sie in Dortmund mit anderen gegen die GroKo-Pläne an zwei Aktionstagen mobil machen.

Hartz-IV: Es wird rein gar nichts „empfangen“, sondern Menschen nehmen ihre Rechte in Anspruch

Kleines Rätsel für geneigte Leser*innen: Was hat die sog. „Mutter Gottes“ aus der christlichen Legendenbildung mit Hartz-IV zu tun? – Antwort: In beiden Fällen wird etwas „empfangen“. Hier vom Himmel („Maria Empfängnis“), dort vom Staat: als AlG II- oder Sozialhilfe-„Empfänger“. Diese Begriffsanalogien vom Empfangen bedeuten für Millionen von Menschen in der Bundesrepublik allerdings: sie müssen angeblich von Almosen leben, wie von einer Gnade, letztendlich unverdient. – Es ist blasierte Herrschaftsideologie, die sich dort vermittelt. ___STEADY_PAYWALL___

Weil in Not Geratene in Wirklichkeit nach dem Grundgesetz dieses Landes, sollte es kein Fake sein, rein gar nichts zu „empfangen“ haben. Sie lesen keine hingeworfenen Brotkrumen auf, wie die Staatspolitik des Inneren ihnen gerne vorgaukelt. Sondern hier wird ureigenstes Recht in Anspruch genommen – ein Recht, das über Generationen erstritten wurde. – Doch, wenig überraschend: die christlich-sozialdemokratische Bundesregierung sieht dies ganz anders.

Ihren neuen Regelsätzen zur Grundsicherung nach SGB II und XII folgend, wäre – nach Auffassung Betroffener wie sozialer Multiplikatoren – die Würde des Menschen durchaus antastbar. Der Widerstand gegen die – dann– verfassungswidrige Politik der GroKo kommt heute und morgen (30. und 31. Oktober) nach Dortmund. Unter Einhaltung der Corona-Abstandsregeln, wie sich von selbst versteht.

Rechtlich gesicherter Anspruch auf Bestreitung des Lebensunterhaltes in einer Notlage

„AufRecht bestehen“ heißt das bundesweite Bündnis, das heute und Samstag die Aktionstage veranstaltet. In Dortmund werden sie  – entgegen der ursprünglichen Ankündigung – nicht an der Katharinentreppe, sondern auf dem Platz von Netanya stattfinden. Vorbereitet wurden sie vor allem vom Sozialforum, Unterstützer*innen sind unter anderem der DGB, Der Paritätische, ver.di, Gasthaus, Kana, Mieterverein, attac, Grüne und Linke.

Was ist mit „AufRecht bestehen“ überhaupt gemeint? Es geht offenbar um dreierlei. Erstens um ein Recht (weswegen auch nicht besagte Empfängnis droht). Also um den gesetzlich gesicherten, rechtmäßigen Anspruch in der Bundesrepublik, als Mensch, der ich in eine unverschuldete Notlage geraten bin und meinen Lebensunterhalt nicht mehr eigenständig bestreiten kann, von der Sozialgemeinschaft, in der ich lebe, soviel an Unterstützung zu erhalten, dass ich, zweitens, erhobenen Hauptes, d.h. in Würde weiterleben kann. Solange, bis die Not vorüber ist.

Und drittens, ist das alles keine Spaßveranstaltung, wie so manche, die nie Not kannten, vielleicht vermeinen (und welche sicher die übergroße Mehrheit der Bundestagsabgeordneten bilden). Sondern es geht – ja, zuweilen ums Überleben. Immer aber ums „Bestehen“ – als Mensch mit aufrechtem Gang. Was bei fehlendem Einkommens und der damit direkt verbundenen sozialen wie kulturellen Ausgrenzung ansonsten nahezu eine Unmöglichkeit ist.

Gesetzgeber rechnet die Regelsätze klein: Empörung bei Aktivist*innen in Dortmund

Die Bundesregierung hingegen scheint das nicht weiter zu kratzen. Bei der Bewertung dessen, was sie für 2021 mit den Hartz-IV-Sätzen vorhat, sparen denn jene in Dortmund, die sich sozial engagieren, auch nicht an Kritik. Lediglich 14 Euro mehr pro Monat sollen es ab 2021 etwa für Single-Haushalte sein. Völlig unzureichend nach Meinung vieler. Und kündigen Widerstand an.

Jutta Reiter ist die heimische DGB-Vorsitzende
Jutta Reiter, Dortmunder DGB-Vorsitzende. Archivfoto

„Ziel ist es, darauf hinzuwirken, dass der Bundesrat und letztlich auch der Bundestag die Regelsätze in SGB II sprich Hartz IV erhöht und anpasst“, erklärt Jutta Reiter anlässlich eines deswegen einberufenen Pressegesprächs.

Es geht aktuell um die im 12. Sozialgesetzbuch nach jeweils fünf Jahren vorgeschriebene Anpassung der Regelsätze für die Grundsicherung, die nun von der Länderkammer abgesegnet werden soll. 2014 hatte das Bundesverfassungsgericht die damalige Anpassung gerade eben noch durchgewunken.

Habe aber dem Gesetzgeber zugleich den Auftrag gegeben, „die Regelsätze eben so sicher zu machen, dass sie ahndungsfest sind, so würde ich das in meiner Sprache ausdrücken“, so die Dortmunder DGB-Chefin. Und gleichermaßen: Was nun der Gesetzgeber abgeliefert habe – das sei eben, gelinde gesagt, „unter aller Sau“. Hier würden akribisch die Regelsätze kleingeredet und eben nicht gegeben, was die Menschen zum Lebensunterhalt bräuchten. Das nämlich seien mindestens 600 Euro, „um halbwegs am Leben teilnehmen zu können“.

1,67 Euro monatlich für eine Waschmaschine in einem Hartz-IV-Einpersonenhaushalt

Eine Waschmaschine etwa hält keine 13 Jahre. Das aber wird in der Berechnungsweise der Regelsätze unterstellt. Und in eine Kneipe zu gehen, um ein Bier zu trinken, dürfte jede*r gerne mal machen, ist aber für sog. Hartz-IV-„Empfänger“ nicht vorgesehen. Die Zumutungen, denen sie ausgesetzt sind, sind vielfältig und als Gunther Niermann vom Paritätischen nur wenige beispielhaft aufzählt, wird schnell klar, weshalb die Akteure am Tisch Tacheles reden.

Gunther Niermann, Vorsitzender, Der Paritätische Dortmund. Archivfoto

Da würden „statistische Tricks“ angewendet, sagt er. Man bezöge sich „zum Teil bei der Bemessung dessen, was ein Mensch zum Leben braucht“, hier zum Beispiel bei der  sog. „weißen Ware“ wie einem Kühlschrank, auf eine Vergleichsgruppe von Ein-Personen-Haushalten, die lediglich 42 Menschen umfasste. Der so ermittelte monatliche Regelbedarf zur Anschaffung eines solchen Geräts – der liegt für Hartz-IV-Bezieher*innen dann rechnerisch bei satten 1,67 Euro.

Davon soll es dann zusammengespart werden – nach Meinung der Bundesregierung. Bei den Anschaffungskosten gehen die Damen und Herren in Berlin übrigens von 81,01 Euro aus. Wofür mit Sicherheit keine Öko-Plus-Granate erhältlich ist – aber macht nichts: die anfallenden Stromkosten, sofern sie nicht der Warmwasserzubereitung geschuldet sind, werden ja nicht bzw. nur indirekt bzw. unzureichend erstattet und müssen ansonsten privat beglichen werden.

2018 gab es in der Bundesrepublik 300.000 Millionen Menschen, denen der Strom abgeklemmt wurde, sagt Helmut Szymanski vom Sozialforum Dortmund; 4,9 Millionen hätten Schulden bei ihrem Energieversorger gehabt. Vorgesehen für die Haushaltsenergie in den Plänen für 2021: etwas über 35 Euro – ein Unding. Der Durchschnittsverbrauch hingegen liegt bei 52 Euro. Gleiches beim Sozialticket: in Dortmund kostet es rund 40 Euro, es sind aber nur 35 Euro für Verkehr in den Regelsätzen vorgesehen.

„Jenseitig aller Realität“ sowie menschenunwürdig“: die SGB-II- und XII-Regelsätze

„Das ist jenseitig aller Realität“, urteilt der Chef des Dortmunder Paritätischen. Und es ist nur ein Beispiel aus einer langen Liste von Herabwürdigungen – in einem quasi-Dokument des Grauens, das die Bundesregierung da präsentiert hat. Hartz-IV-„Empfänger“ brauchen keinen Urlaub, keine auswärtige Übernachtung, keinen Garten, keine Pflanzen, keine Haustiere, keinen Besuch von Gaststätten, Cafés oder Kantinen, zählt Niermann auf.

In diesen NRW-Städten lebt mehr als ein Viertel der Kinder in Familien, die Hartz IV beziehen. (In Prozent, Jahresdurchschnitt 2017)
In diesen NRW-Städten lebt mehr als ein Viertel der Kinder in Familien, die Hartz-IV beziehen (in Prozent, Jahresdurchschnitt 2017).

„Das ist menschenunwürdig“, lautet sein Verdikt. Immerhin ginge es um einen gesetzlichen Anspruch. Doch dessen Ausgestaltung liest sich so, zitiert er weiter: 7,66 Euro für Hygienebedarf von Babys und Kleinkindern, einschließlich der Windeln wohlgemerkt. Vorgesehen für Bildung seien ganze 1,60 Euro monatlich, ergänzt Helmut Szymanski.

Das Grundprinzip, nach dem da vorgegangen würde, so Niermann, lautet, Kolleg*innen des Gesamtverbandes zitierend: „Da wird nicht darauf geprüft, was brauchen Menschen, wie funktioniert Teilhabe an Gesellschaft, sondern da wird nur geprüft, was Menschen alles nicht brauchen.“ Oder, drastischer formuliert, schiebt er dazwischen: „wie sie über den Tag kommen und nicht verrecken“.

Und: Der Regelsatz für Kinder und Jugendliche ist noch einmal deutlich niedriger, sie werden behandelt wie kleine Erwachsene. Die Logik: als kleinere Menschen ist der Bedarf geringer. Aber, so Niermann: „Wir wissen, das Gegenteil, ist der Fall.“ Wer Kinder hat, weiß um die Kosten.

Betroffen sind ebenfalls alte und Menschen mit Behinderung sowie Geflüchtete nach SGB XII

Trotz jahrzehntelanger Arbeit sind immer mehr Menschen von Altersarmut bedroht und fallen in die Sozialhilfe – wenn sie denn überhaupt in Anspruch genommen wird: denn da ist häufig eine falsche Scham. Foto: NGG

Außer nach Hartz-IV betrifft die unzureichende Gestaltung der Regelleistungen über SGB XII (Sozialhilfe) alte Menschen und Menschen mit Behinderung sowie geflüchtete Menschen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. „Das erhöht die Zahl immens“, erklärt Helmut Szymanski.

Hinzukämen viele Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen und jene, die aufstocken müssten. Schließlich wären da noch die mit geringem Einkommen, die an der Schwelle zu Hartz-IV lebten und keine Leistungen in Anspruch nehmen könnten, weil diese Schwelle so niedrig gestaltet ist.

Für einen Reisepass sind es 25 Cent im Monat. Das ist für Nicht-Deutsche, die hier einen Reisepass haben müssen, ein kleines Problem: So verlange die marokkanische Botschaft in Berlin „nicht nur zwei Fahrten dorthin, sondern auch 860 Euro“ für einen Pass, macht Szymanski deutlich. Es ist offensichtlich: hier braucht gar nicht erst weiter gerechnet zu werden.

Akteure fordern wegen der Coronakrise und Mehrausgaben einen Zuschlag von 100 Euro

Dann die Coronakrise: zig Milliarden werden deswegen in die Wirtschaft gepumpt, geben die Akteure während der PK zu verstehen – während jene, die arm sind, wie immer das Nachsehen haben.

Corona-Schutzmasken und andere Hygieneartikel gibt es zumeist nicht kostenlos. Foto: Stadt Do

Das ist das Deutschland, wie man es kennt. Das Gleiche gilt für die SPD, bemerkt Niermann: 2010, als Ursula von der Leyen (CDU) dieselbe Schiene fuhr, da skandalisierten die oppositionellen Sozialdemokraten im Bundestag: wie da mit Menschen umgegangen würde, könne nicht wahr sein. Heute, zehn Jahre später, ziehen ihr Arbeitsminister (Heil) und ihr Wirtschaftsminister (Scholz) dieselbe Nummer in der GroKo durch.

Gefordert werden von dem Bündnis wegen Corona ein Zuschlag von 100 Euro. Müssten Menschen wegen eines Verdachtsfalls in ihrem Umfeld in Quarantäne, erläutert Sozialarbeiter Helmut  Szymanski, dann entstünden Mehrkosten, denn sie könnten „nicht einmal mehr zum Einkaufen gehen; sie müssen sich die Lebensmittel bringen lassen“ – was bekanntlich nicht umsonst geschieht. Ganz abgesehen davon, dass der Einkauf selbst teurer wird, weil der Zugriff auf viele tagesaktuelle Sonderangebote fehlt. Weiterhin entstehen Kosten für Hygiene, Mundschutz etc. Dem müsse Rechnung getragen werden.

Der Bezug von Leistungen nach Hartz-IV bedeutet ein Leben unterhalb der Armutsgrenze

Es erhellt sich: Auf Leistungen nach SGB II oder SGB XII angewiesen zu sein, das hat zur Folge, weit unterhalb der Armutsgrenze leben zu müssen, d.h. in unwürdigen Lebensverhältnissen. Wo diese Leistungen doch zumindest das Existenzminimum sichern sollen – das grundgesetzlich verbürgt wird (Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1).

Wenn das BVG diesen Anspruch und Gesetzesauftrag durch die in Hartz-IV festgelegten Regelbedarfe 2014 gerade noch als erfüllt ansah, dann spricht dies Bände. Es zeigt, wie sich höchste Richter*innen in diesem Lande Existenz in Würde (Art. 1 Abs. 1 GG) vorstellen: nämlich als Zugang zu Nahrung, Kleidung, Wohnung und medizinischer Basalversorgung – das war’s. Für mehr reicht es kaum. Soziale, kulturelle Teilhabe, Teilhabe am öffentlichen Leben – dafür bleibt kaum etwas übrig.

Aber selbst das BVG-Urteil von 2014 eröffnet im Einzelnen offenbar einen Spielraum nach oben. Doch die richterlichen Vorgaben würden von der Bundesregierung qua Sozialminister „seit Jahren vorsätzlich missachtet“, kritisierte das „AufRecht bestehen“-Bündnis noch im Juni dieses Jahres bei einer Videokonferenz.

Betroffene verwalten den Mangel – können kaum positiv selbst entscheiden, wie sie haushalten

Schüler der Schule am Hafen helfen in der Tafel an der Haydnstraße
Für viele ein letzter Ausweg, weil es hinten und vorne nicht mehr reicht: die Tafel. Archivfoto: Klaus Hartmann

Die Konsequenz: „Ich muss mich immer entscheiden: wozu gebe ich das Geld aus“, sagt René Bauer, der selbst Hartz-IV bezieht. Es ist logisch: Überschreite ich in einer Sparte die extrem niedrigen Regelsätze, fehlt das Geld woanders. „Diese Regelsätze sind fernab jeglicher Realität“, sagt auch er, der es täglich am eigenen Leibe erfährt. Genauso wie die Leute, die Politiker, die darüber entschieden. Insgesamt, urteilt er zum Leistungssystem: „Eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit.“

Gunther Niermann ergänzt: hier würde der Mangel verwaltet. Statt positiver Entscheidungsmöglichkeiten, ist da ein spezifischer Druck: bei einer Entscheidung für etwas, entscheide ich mich zugleich gegen ganz viele andere Dinge – die ich aber leider ebenfalls dringend benötige. Mit anderen Worten: Schere ich an einer Stelle im Hinblick auf meine Ausgaben aus und überschreite den restriktiven Leistungssatz, kann ich woanders gar nicht mehr genug haben.

Was von der verantwortlichen Politik in diesem Zusammenhang immer wieder gern in die Öffentlichkeit lanciert wird, das ist das Bild eines verrohten, kulturell wenig interessierten Menschen, der faul auf seinem Hintern sitzt und sein Geld, hätte er mehr davon, eh nur für Fragwürdigkeiten ausgäbe.

Das verzerrte Bild vom saufenden, Pizza mampfenden „Hartz-IV-Empfänger“ vor dem Fernseher

Zu solchen und ähnlichen Legenden, dass der typische „Hartz-IV-Empfänger“ quasi schon morgens da säße, mit ’ner Pulle Bier, und nachmittags bereits voll wie eine Haubitze sei, sagt René Bauer als Betroffener: das beträfe vielleicht ein, zwei Prozent.

„Was spielt das für eine Rolle?“, fragt Niermann zwischendurch. „Was sagt das über Sie aus als Mensch?“ Denn, so begründet er: Warum sollten Bezieher*innen von Hartz-IV die besseren Menschen sein? Er wolle ja nicht wissen, wie viele der anderen, die keine Transferleistungen erhielten, jährlich bei ihrer Steuererklärung ein wenig schummelten.

Doch hier – bei diesem Volkssport – ist der Druck auf die Übertäter*innen deutlich geringer. Während Menschen in Hartz-IV bereits bei kleinerem Fehlverhalten schnell mit teils drastischen Sanktionen zu rechnen haben, indem ihnen von dem wenigen, das ihnen zusteht, noch Leistungskürzungen drohen.

Berechnungsweise der Hartz-IV-Sätze und Narrativ von der Selbstverschuldung in der Kritik

An der Steinstraße in der Nordstadt in ist die Zentrale von Agentur für Arbeit und Jobcenter in Dortmund.
An der Steinstraße in der Nordstadt: Zentrale von Agentur für Arbeit und Jobcenter in Dortmund.

Zudem: Ein Drittel aller, die in Dortmund Leistungen nach SGB II beziehen, arbeiten. Darauf verweist Jutta Reiter. Das seien entweder Aufstocker*innen oder Leute mit einem Minijob, wie ihn auch René Bauer hat. Allerdings: bei 450 Euro beträgt der Selbstbehalt gerade einmal 160 Euro. So oder so ähnlich sieht es bei allen Geldzuflüssen aus.

Bekommen etwa Kinder in einem Hartz-IV-Haushalt zur Konfirmation Geld geschenkt und wird es nicht versteckt (was illegal wäre), ist es weg. Kassiert vom Jobcenter. Weil es nicht vorgesehen ist. Weil die Bundesregierung, der Gesetzgeber sagt: „Das brauchst Du nicht!“

Grundlage für die Berechnung der Hartz-IV-Sätze ist eine sog. Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die jeweils im Abstand von fünf Jahren seitens des Statistischen Bundesamt erneut ermittelt wird. Dabei werden in einem ersten Schritt zunächst Referenzhaushalte herangezogen: die unteren 15 Prozent der Single-Einkommen (1086 Euro monatlich) und bei Familien die unteren 20 Prozent der Mehrpersonenhaushalte.

Im zweiten Schritt werden vom faktischen Verbrauch dieser Personengruppe aus den unteren Einkommenssegmenten aus politischen Gründen jene Posten schlicht abgezogen, die Hartz-IV-Beansprucher*innen sich nicht leisten können dürfen – wie etwa Urlaub oder Alkohol und nach dem impliziten Motto: „Strafe muss sein, für eine immerhin selbstverschuldete Lage“. – In dieser Annahme liegt die Crux: Als ein großer politischer Erfolg kann verstanden werden, den Menschen im Lande die Lüge von der Eigenschuld an der Arbeitslosigkeit zu verkaufen.

Von kontrafaktischen Narrativen und nachweislich falschen Annahmen bei der Hartz-IV-Gesetzgebung

Das Aufstehen gegen Armut ist erlernbar; auch Erwachsene sind dagegen nicht gefeit.
Das Aufstehen gegen Armut ist erlernbar; auch Erwachsene sind dagegen nicht gefeit.

Mit Einführung von Hartz-IV sei es gelungen, und das sei die Sünde, sagt Niermann: „Man hat es geschafft, den Menschen für ihre Arbeitslosigkeit die Verantwortung zu geben.“ Ohne die Vergangenheit davor schön reden zu wollen.

Doch das habe es damals so in dem Maße nicht gegeben, dass da gesagt wurde: „Da sind diese Looser in ihrer selbstgewählten Armut! Und wenn die sich anstrengen würden …“ Eine implizierte Lüge: „Das Narrativ dahinter ist nicht wahr“, so der Chef des Paritätischen.

Aber es sind keine Versager, Menschen zweiter Klasse, die etwa beim Jobcenter unter unwürdigen Bedingungen ein und aus gehen. Sondern sie wollen, was ihnen nach dem Gesetz de facto eh zusteht. Niemand müsste sich dafür schämen. – Das sollten sie aber, in dieser Logik, die Verantwortung bei ihnen sucht. Sich schämen für das bisschen, das da monatlich auf dem Konto landet – zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben.

Damit verbunden sei eine weitere irrige Annahme, so Niermann: Hartz-IV wurde in die Welt gesetzt, indem zwei Dinge miteinander verknüpft wurden: Entfesselung der Wirtschaft, indem wir die Menschen stärker unter Druck setzen, damit sie in den Arbeitsmarkt aufgenommen werden. Falsch daran, so Niermann: In den letzten sechs, sieben Jahren mit einer prosperierenden Wirtschaft habe beobachtet werden können, „dass es keinen (unmittelbaren) Zusammenhang gibt zwischen abschmelzenden Hartz-IV- bzw. SGB II-Zahlen und einer boomenden Wirtschaft“.

Mit anderen Worten, die Überlegung hinter der Hartz-IV-Gesetzgebung – eine blühende Wirtschaft führt zur Aufnahme von Langzeitarbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt – ist gescheitert. „Das ist eine Lüge, eine Geschichtslüge“, macht er klar.

Politische Motivation und das System „Hartz-IV“ (1): Werden Menschen faul, wenn es zu kuschelig wird?

Die Akteure sind im Weiteren überzeugt und der Verdacht liegt nahe: Hier soll nicht ermittelt werden, was Menschen wirklich brauchen, sondern es wird normativ gesetzt, wie wenig es sein darf, um wenigstens nicht durchs Elend schnell zu sterben. Es ginge hier nicht darum, was die Menschen (wirklich) bräuchten, bestätigt Jutta Reiter.

„Je geringer Hartz-IV ist, desto weniger Aufstocker gibt es in Hartz-IV, je höher die Regelbedarfsleistungen sind, umso mehr Menschen bekommen Harzt-IV trotz Erwerbstätigkeit; das ist eine Logik, die dahintersteht“, erklärt der Sozialarbeiter Helmut Szymanski.

Dennoch: Bei dieser riesigen Lücke zwischen Realbedarf und faktischen Hartz-IV-Leistungen, da fragt es sich doch, weshalb das so ist? Wie kann es sein, dass es so etwas überhaupt gibt? „Ich habe manchmal das Gefühl, das wird extra so gemacht“, vermutet René Bauer. Um die Bezieher*innen von Transferleistungen „klein zu halten“, um sie „gegeneinander auszuspielen“.

Politische Motivation und das System „Hartz-IV“ (2): Diskriminierung von Hartz-IV-„Empfängern“ spaltet

Ist das die Strategie? Geht es um Spaltung? – „Ja“, ist Jutta Reiter klar. Normativ stünde dahinter die Annahme, die Menschen bemühten sich nicht hinreichend um Arbeit, bekämen sie – im Falle von Arbeitslosigkeit – zu viel Geld vom Staat. Die Position des DGB demgegenüber: statt Arme noch ärmer, die unteren Lohngruppen so attraktiv zu machen, dass es sich lohnt, arbeiten zu gehen. Das aber sei in einer Marktwirtschaft nicht so leicht durchzusetzen.

„Ich glaube“, ergänzt Niermann, „dass Hartz-IV-Empfänger in dieser Gesellschaft auch eine wichtige Funktion haben, weil da kann man nämlich drauf zeigen und sagen: ,Benimm‘ Dich anständig oder willst Du da enden’?“ – Das wäre die Warnfunktion des Systems. Die nur dann effektiv funktioniert, wenn die gesellschaftliche Großgruppe derjenigen, die Hartz-IV beziehen, ausgegrenzt und stigmatisiert wird.

„Es diskreditiert Menschen“, kritisiert Niermann. Und das beträfe allein in Dortmund – für 2018 und mit Blick auf die Bedarfsgemeinschaften – 42.000 Menschen. Und glaubt, „dass da Menschen in Abhängigkeit gehalten werden, in einer Art und Weise ihr Leben gestalten müssen, die ihnen Teilhabe unmöglich macht“, so Niermann. Dazu passte dann das Bild des rauchenden, Fernsehen guckenden usf. „Hartz-IV-Empfängers“, „der die Kohle verjubelt“.

Heute und Samstag: Aktionstage in der Dortmunder City auf dem Platz von Netanya

Die Aktionstage wurden in Dortmund maßgeblich vom Sozialforum vorbereitet. Sie finden heute und Samstag (30. und 31. Oktober) in der Dortmunder City statt, auf dem Platz von Netanya, und zwar an beiden Tagen jeweils von 10 bis 15 Uhr.

Dort wird es unter anderem eine Ausstellung geben. Dargestellt wird die Situation einer 13-Jährigen, die mit ihren Eltern von Hartz-IV lebt. Im Weiteren, wie die Situation im ÖPNV ist oder mit mangelhafter Ernährung auszukommen oder mit einer Stromsperre.

Zugleich werden Unterschriften gesammelt, um den Bundesrat dazu zu bewegen, die Zustimmung zur Änderung des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes (RBEG) zu verweigern. Auf die Einhaltung der geltenden Corona-Schutzmaßnahmen wird seitens der Veranstalter geachtet.

Weitere Informationen:

  • Presseerklärung der Aktionstage; hier:
  • Flugblatt Aktionstage; hier:
  • Homepage AufRecht bestehen!; hier:
  • Sozialforum Dortmund, Infos – hier:
  • Weitere Informationen zum Thema vom Förderverein der gewerkschaftliche Arbeitslosenarbeit (Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen); hier:
  • Unterschriftenlisten können hier heruntergeladen werden:
  • Studie des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (September 2020): Regelbedarfe 2021. Alternative Berechnungen zur Ermittlung der Regelbedarfe in der Grundsicherung; hier:
  • Expertise des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (September 2020): Arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mangellagen eines Leben mit Hartz IV; hier:
  • Das Bündnis AufRecht bestehen wird getragen von: Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), „ARBEITSLOS – NICHT WEHRLOS“ Wolfsburg (ANW), „AufRecht bestehen“ Rhein-Main, Bundesarbeitsgemeinschaft Prekäre Lebenslagen (BAG-PLESA), Bundes-Erwerbslosen-Ausschuss Gewerkschaft ver.di, Duisburger Initiative „AufRecht bestehen!“, Gewerkschaftliche Arbeitslosengruppe im DGB-KV Bonn/Rhein-Sieg, Gruppe Gnadenlos Gerecht Hannover, Frankfurter Arbeitslosenzentrum e.V. (FALZ), Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS), Tacheles e.V. Wuppertal, Widerspruch e.V. Bielefeld und anderen örtlichen Bündnissen und Initiativen.

 

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