Wer sich auskennt und genau hinsieht, entdeckt ihn in Dortmund fast an jeder Ecke: den Jugendstil. Oft ist er noch ganz deutlich an zahlreichen alten Fassaden zu sehen. Häufig liegt er aber auch verdeckt. Unter dicken Schichten von Sanierungen und Renovierungen der letzten Jahrzehnte. Und manchmal braucht es Tiefbauarbeiten an einer Fernwärmetrasse, um ihn freizulegen. Bei solchen Arbeiten in der Hansastraße ist nun ein Fragment eines Sandsteinreliefs geborgen worden, das von der kunsthandwerklichen Blüte des Jugendstils in Dortmund erzählt.
Motiv entstammt einer 115 Jahre alten Entwurfszeichnung
Es handelt sich um einen 110 Zentimeter langen und 250 Kilogramm schweren, grünlichen Sandstein, der in einem Meter Tiefe gefunden wurde. Zu sehen ist das flache Relief einer Steinmetzarbeit mit einer muschelförmigen, von zwei Voluten gerahmten, Schlusssteinagraffe. ___STEADY_PAYWALL___
Daneben finden sich die für den Jugendstil typischen floralen Ornamente: elegant geschwungene Gewächse mit stilisierten Blüten und Blättern. Die Agraffe deutet darauf hin, dass dieses Relief einst die Fläche einer Hausfassade über einer Fensteröffnung schmückte.
Recherchen in den historischen Bauakten der Hansastraße legen nahe, dass der Stein zu einem Haus gehörte, dass in der Nähe des Fundortes stand. Tatsächlich lässt sich auf einer 115 Jahre alten Entwurfszeichnung genau das Motiv erahnen, welches den jetzt entdeckten Stein ziert.
Blüte des Jugendstils als Zeichen des Wohlstandes einer wachsenden Industriestadt
Es ist über der Fensteröffnung der mittleren Achse im zweiten Obergeschoss eines Hauses zu erkennen, das die Adresse Hansastraße 57 hatte. Das Gebäude ist im Krieg zerstört worden. Die Adresse gibt es heute nicht mehr, da mehrere Grundstücke nach dem Krieg zusammengelegt wurden. Bauherr des 1905-1906 errichteten Hauses war der Kaufmann Paul Schwarz.
Das mit Jugendstilornamenten reich dekorierte Haus war kein Einzelfall in der Dortmunder Innenstadt. 1902 bis 1904 wurde das Dortmunder Stadttheater errichtet. Es war das Hauptwerk des Jugendstils in Dortmund, stammte vom bekannten Architekten Martin Dülfer und lag nicht weit von der Hansastraße entfernt.
In den 1950er Jahren wurde der Bau dann abgeräumt, obwohl er im Krieg nur teilweise beschädigt worden war. Ebenfalls im Krieg verloren gingen das Geschäftshaus Sternberg & Co. sowie das Warenhaus Theodor Althoff am Westenhellweg: Mit ihren verglasten Jugendstilfassaden und den dahinter sichtbaren Warenauslagen, repräsentierten sie den Wohlstand der wachsenden Bürgerschaft in der aufstrebenden Industriestadt.
Auch wenn im Krieg viel zerstört wurde, gibt es in Dortmund vieles zu entdecken
Ihr Schicksal teilten die meisten der anderen kleineren und größeren Jugendstilbauten der City, die Hauptziel der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg war. Am Westenhellweg lassen sich trotzdem noch heute einige Jugendstilhäuser entdecken, so zum Beispiel am Westenhellweg 49, 23, 21 und 26. Aufgrund zahlreicher Umbauten in den letzten Jahrzehnten ist ihre alte Pracht aber kaum mehr erlebbar.
Außerhalb des Wallrings wurde Dortmund weitaus weniger stark im Krieg zerstört. Dort besitzt die Stadt bis heute einen großen Reichtum an Jugendstilfassaden. Bekannt ist die 1903 von Bruno Möhring in Dortmund-Bövinghausen geschaffene Maschinenhalle der Zeche Zollern II/IV mit ihrem eindrucksvollen Jugendstiltor.
Weniger beachtet wurden hingegen die unzähligen Wohn- und Geschäftshäuser in den Stadterweiterungsgebieten der Gründerzeit und in den Vororten. Die größte Dichte findet sich heute in der Nordstadt, aber auch im Unionviertel, Gerichtsviertel, Kaiserviertel, Kreuzviertel, am Hörder Neumarkt und in den Zentren von Unterdorstfeld, Hombruch und Hörde. Sogar in den ländlich geprägten Vororten wurden Fassaden mit den typischen Jugendstilornamenten versehen. Sie erzählen vom Umbruch und Aufbruch der Zeit um 1900.
Geschichte: Schön gestaltete Umwelt sollte die Menschen positiv beeinflussen
„Ich glaube, dass wir von nun an einen modernen Stil besitzen, ebensogut wie ich glaube, dass wir von nun an eine moderne Schönheit besitzen.“
Henry van de Velde, Vom neuen Stil, 1907
Der Jugendstil datiert in die Jahre 1890 bis 1910 und war nur eine von mehreren Kunstströmungen jener Zeit. Er war der künstlerische Ausdruck einer Bewegung, die eine modernere und schönere Welt schaffen wollte. Schönheit spielte eine zentrale Rolle in der Kunst des Jugendstils, denn eine besonders schön gestaltete Umwelt sollte auch den Menschen positiv beeinflussen.
Die Formenwelt der Natur war dafür das Vorbild, mit ihren geschwungenen Linien, die stilisiert und regelrecht zum Tanzen gebracht wurden. Letztlich konnte sich der Jugendstil nicht durchsetzen und währte nur kurz. Seine historische Bedeutung liegt vor allem im Überwinden des Historismus, wodurch er den Weg in die Moderne bahnte. Die Schönheit seiner Werke macht ihn bis heute zu einer der beliebtesten Epochen der Kunstgeschichte. Dortmunder
Jugendstil markierte eine neue Zeit – der geordnete Aufstieg zur Großstadt
Auch in Dortmund markierte der Jugendstil die Wende zu einer neuen Zeit. Nach Jahrzehnten des weitgehend ungeordneten Stadtwachstums mit ungeplanten, verwinkelten Stadträumen und vielen einfach gestalteten Wohnhäusern für die hinzuziehenden Arbeiter, begann mit der Jahrhundertwende der geordnete Aufstieg zur Großstadt.
Stadterweiterungsgebiete wurden von nun an nach dem Vorbild europäischer Hauptstädte geplant. Handwerker waren am Bau der Stadt maßgeblich beteiligt, die in dieser Zeit explosionsartig wuchs.
Die Formenwelt des Jugendstils verbreitete sich in Dortmund möglicherweise über die 1904 gegründete städtische Handwerkerschule, in der unter anderem Stuckateure, Maurer und Steinmetze lernten. Die großformatigen Vorlagenbücher mit Jugendstilornamenten sind bis heute erhalten. Allerdings datieren viele Häuser mit entsprechenden Dekoren schon in die Zeit vor 1904, manche sogar vor 1900, wie beispielsweise das Haus Am Remberg 109 in Hörde aus dem Jahre 1898.
Vermutliche Verbreitung durch die städtische Handwerkerschule
Wie stark der Jugendstil das Stadtbild Dortmunds in seiner Blütezeit als Industriestadt tatsächlich geprägt hat, ist bis heute wenig bekannt. Auch eine weitergehende wissenschaftliche Erforschung des Phänomens steht noch aus, auch wenn im Zuge der Ausstellung „Rausch der Schönheit. Die Kunst des Jugendstils“ (Museum für Kunst und Kulturgeschichte, 09.12.2018-23.06.2020) erste Schritte unternommen wurden.
Demnach war Dortmund war wohl kein geistig-intellektuelles Zentrum des Jugendstils wie München oder Darmstadt. Aber die Formenwelt und Schönheit des Jugendstils gelangte über das Kunsthandwerk in Dortmund zu einer erstaunlichen Blüte.
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Jugendstil im Unionviertel: Ein Spaziergang zur Kunst im öffentlichen Raum (Stadt Dortmund Pressemitteilung)
Jugendstil im Unionviertel: Ein Spaziergang zur Kunst im öffentlichen Raum
Einen Spaziergang zum Jugendstil im Unionviertel gibt es am Samstag, 6. Juni: Stadtführer Wolfgang Kienast leitet die Teilnehmenden zu Fassaden und Gebäuden aus dem frühen 20. Jahrhundert und macht auf die Besonderheiten des Jugendstils in Dortmund aufmerksam. Los geht es um 14 Uhr am Café Erdmann im Westpark (Rittershausstraße 40).
Dichter bebaut als das Unionviertel ist kein Dortmunder Stadtteil: Enge Straßen, wenig Grün, begrenzt durch Gleisanlagen und Straßenzüge war es einst Standort großer Stahlwerke sowie Zentrum der hiesigen Brauereiwirtschaft. Für die Arbeiter wurde Wohnraum in unmittelbarer Nähe der Industrieanlagen geschaffen.
Selbst bei diesen relativ schlichten Häusern wurde oft Wert auf eine ansprechende Fassadengestaltung gelegt. Repräsentativere Gebäude entstanden entlang der Rheinischen Straße. Der Spaziergang zeigt eine eher unbekannte Seite des Viertels, das sich in den vergangenen Jahren zum Kreativquartier der Stadt entwickelt hat.
Der Spaziergang kostet sechs Euro, ermäßigt drei Euro. Tickets gibt es ausschließlich an der Kasse des Museums für Kunst und Kulturgeschichte, Hansastraße 3, Telefon (0231) 50-25525. Dort müssen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch ihre Daten hinterlassen. Es besteht keine Möglichkeit, am Tag der Tour vor Ort eine Karte zu erwerben.
Alle Teilnehmenden benötigen einen Mund-Nasen-Schutz und müssen die Abstandsregelung von 1,5 Metern einhalten. Die Gruppe wird auf acht Menschen beschränkt.