Grund zur Besorgnis: Immer mehr Menschen in NRW sind von rechter Gewalt betroffen – Angriffe auf Kinder nehmen zu

Mehr als 40 Gruppen hatten zur Teilnahme an der Demo aufgerufen. Fotos: Alex Völkel und Leopold Achilles
Auch wenn die Zahl der Angriffe leicht zurückgegangen ist, sind in NRW immer mehr Menschen von rechter Gewalt betroffen. Erschreckend ist die Zunahme bei Kindern und Jugendlichen. Foto: Alex Völkel/Archiv

2019 gab es in Nordrhein-Westfalen (NRW) 202 rechte Gewalttaten mit mindestens 322 direkt betroffenen Menschen, darunter erschreckenderweise eine zunehmende Anzahl von Kindern. Dies ist das Ergebnis der Jahresstatistik der Opferberatung Rheinland (OBR) und BackUp, den beiden Beratungsstellen für Betroffene extrem rechter, rassistischer, antisemitischer und anderer menschenfeindlich motivierter, kurz: rechter Gewalt. Die wachsende Anzahl der Betroffenen seit 2017 verdeutlicht das Ausmaß rechter Angriffe und zeigt, dass trotz sinkender Angriffszahlen die Entwicklung rechter Gewalttaten besorgniserregend ist. Neben rassistisch motivierten Taten, stehen vor allem Andersdenkende, die sich öffentlich für eine pluralistische und multikulturelle Gesellschaft einsetzen im Visier des rechten Mobs.

Kinder sind immer häufiger das Ziel rechter und rassistischer Gewalt 

Grafiken: Back Up/OBR

Die Jahresbilanz 2019 der OBR und BackUp dokumentiert vor allem versuchte Tötungen (6 Prozent der Angriffe), Körperverletzungen (79 Prozent), Brandstiftungen (knapp 3 Prozent) sowie einige Bedrohungen und Sachbeschädigungen (9 Prozent), die aufgrund ihrer massiven Folgen für die Geschädigten als Gewalttat gewertet werden. ___STEADY_PAYWALL___

Die beiden Beratungsstellen registrierten 2019 eine leichte Abnahme der rechten Gewalttaten gegenüber dem Vorjahr. Gleichzeitig stieg die Zahl der von dieser Gewalt direkt betroffenen Menschen. So wurden vermehrt Menschen angegriffen, verletzt oder massiv bedroht, die zu zweit oder in größeren Gruppen unterwegs waren. 14 Prozent der Betroffenen waren unter 18 Jahre alt. 

Besonders drastisch: doppelt so viele unter 14-Jährige betroffen wie 2019

Im Konkreten ist von 33 Kindern (unter 14 Jahren) und 13 Jugendlichen (zwischen 14 bis 17 Jahren) die Rede, die zumeist aus rassistischen Motiven angegriffen wurden. Besonders drastisch ist die Entwicklung bei den unter 14-Jährigen: 2019 wurden doppelt so viele Kinder angegriffen wie 2018. 

Die Tatkontexte sind sehr unterschiedlich: Oft wurden Kinder von Erwachsenen aus rassistischen Motiven angegriffen, bei manchen Gewalttaten waren die Täter*innen aber ebenfalls Kinder oder Minderjährige. Viele Taten ereignen sich für die betroffenen Kinder völlig unvermittelt im öffentlichen Raum. 

In der Beratungsarbeit deutlich zugenommen haben aber auch Fälle, in denen Kinder in ihrem Wohnumfeld angegriffen oder ganze Familien über einen langen Zeitraum von Menschen aus der Nachbarschaft so massiv bedroht wurden, dass sie sich zu einem Umzug gezwungen sahen. 

Beratungsstellen fordern seit Jahren eine/n Landesbeauftragte/n gegen Rassismus

Das häufigste Tatmotiv war, wie in den Vorjahren, Rassismus: 67 Prozent aller 2019 registrierten Gewalttaten waren rassistisch motiviert, mindestens 239 Menschen wurden wegen ihrer (vermeintlichen) Herkunft oder Religionszugehörigkeit angegriffen und zum Teil erheblich verletzt. Zu den Betroffenen zählen Menschen, die seit Jahrzehnten ihren Lebensmittelpunkt in NRW haben oder in Deutschland geboren wurden, Schwarze Menschen, Muslim*innen, Rom*nija und Geflüchtete. 

Dass mehr als zwei Drittel aller rechten Gewalttaten eine rassistische Motivation zugrunde lag, verdeutlicht die erschreckend hohe Gewaltbereitschaft gegenüber allen Menschen, denen eine nicht-deutsche Herkunft zugeschrieben wird, die nach Deutschland geflüchtet sind, eine nicht-weiße Hautfarbe haben oder islamischen Glaubens sind. 

Die beiden Beratungsstellen weisen seit Jahren auf das erschreckende Ausmaß rassistischer Gewalt und die zunehmende Unsicherheit betroffener Menschen und Gruppen hin. Sie unterstützen Angegriffene und Geschädigte und fordern in jedem Einzelfall die gesellschaftliche Solidarität mit den Opfern. Dies allein reicht aber aus Sicht der Beratungsstellen nicht.

„In NRW könnte die Einrichtung einer oder eines Landesbeauftragten gegen Rassismus eine wichtige Maßnahme sein, um die Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Solidarität in Politik und Öffentlichkeit bewusster zu machen“, so Birgit Rheims von der OBR.

Wichtig ist aus Sicht der Beratungsstellen, dass die einzurichtende Stelle die Stimmen der Betroffenen in die gesamtgesellschaftliche Debatte einbringt, über eigene und hinreichende Ressourcen verfügt und gemeinsam mit Betroffenengruppen an konkreten Lösungen für NRW arbeitet. 

Mord an Walter Lübcke: Gewalt gegen politische Gegner*innen nimmt zu 

Angriffe auf sogenannte „politische Gegner*innen“ haben 2019 gegenüber den Vorjahren erneut zugenommen (2019: 46, 2018: 43, 2017: 34). Rund 23 Prozent aller 2019 registrierten Gewalttaten richteten sich gegen Menschen, die sich politisch und zivilgesellschaftlich gegen Rechtsextremismus und Rassismus einsetzen oder für Demokratie, Pluralität und Geflüchtete engagierten. 

Dr. Walter Lübcke wurde 2019 ermordet. Andersdenkende geraten zunehmend ins Visier des rechten Mobs. Foto: RP Kassel

Immer wieder betroffen sind dabei auch Journalist*innen und Politiker*innen, die wegen ihrer politischen Positionierung gegen Rechts oder für Geflüchtete angegriffen werden. Im Gegensatz zu rassistisch motivierten Angriffen handelt es sich bei den Täter*innen häufig um Mitglieder und Sympathisant*innen der mehr oder weniger organisierten rechten Szene in NRW. 

Überdurchschnittlich viele dieser Angriffe gegen politische Gegner*innen fanden in den Großstädten NRWs statt. Die Beratungsstellen registrieren zunehmende massive Bedrohungen und Einschüchterungsversuche aus dem rechten Spektrum, mit dem politisches und demokratisches Engagement eingeschränkt werden soll. 

Auch die Verbreitung sogenannter extrem rechter Feindes- und Todeslisten zielt auf politische Einschüchterung und Beschränkung demokratischen Engagements. Insbesondere nach der Ermordung von Walter Lübcke Mitte 2019 in Kassel registrierten die Beratungsstellen vermehrt Anfragen von potentiell Betroffenen, die mehr Transparenz und Informationen von Seiten der Ermittlungsbehörden in NRW forderten.

Rassismus muss als solcher benannt werden – auch wenn der Täter psychisch krank ist

Besonders erschreckend war die Gewalttat in Bottrop und Essen zum Jahreswechsel 2018/2019. Ein Mann war aus rassistischen Motiven mehrmals gezielt mit seinem Auto in feiernde Menschengruppen gefahren. Vor dem Landgericht Essen wurde der Täter in zwölf Fällen wegen Mordversuchs angeklagt. 

Mindestens 69 Menschen waren laut Anklage direkt von der rassistisch motivierten Tat betroffen. „Dass der Täter vor Gericht für schuldunfähig befunden wurde, war für viele schwer zu verkraften. Die Anerkennung einer rassistischen Tat als solche ist für die Betroffenen enorm wichtig, um das Erlebte besser verarbeiten zu können“, sagt Sabrina Carrasco Heiermann von BackUp. „Rassismus muss als solcher benannt werden – auch wenn der Täter psychisch krank ist“.

„Die wiederkehrende Erzählung vom „psychisch kranken Einzeltäter“ verschleiert, wie wir als Gesamtgesellschaft rassistischer Gewalt den Nährboden bereiten. Um dem entgegenzuwirken, müssen wir Betroffenen nicht nur zuhören und ihre Erfahrungen anerkennen, ihre Perspektiven müssen sich auch in strukturellen Entscheidungen und Beurteilungen wiederspiegeln“, so Sabrina Carrasco Heiermann von BackUp.

 

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