Nicht nur Schulen und Kitas, auch die Behindertenwerkstätten sind im Laufe dieser Woche auf Weisung des Landes NRW wegen der Corona-Gefahr geschlossen worden. Während die kurzfristig notwendige Betreuung von Kindern für deren Eltern durch eine geschlossene Kita eine Belastung darstellt, ist die unerwartete Betreuung von Menschen mit Schwerst- und Mehrfach-Behinderungen eine ganz andere Herausforderung. Fast 2200 Beschäftigte allein in Dortmund sind von der Schließung betroffen. Wir haben bei den Einrichtungen nachgefragt.
Die nun fehlende Tagesstruktur belastet die Familien und Wohnheime
In Dortmund sind die Werkstätten „Gottessegen“, die die Werkstätten „Über den Teichen“ und die Werkstätten der Arbeiterwohlfahrt aktiv – sie haben zwölf Betriebsstätten. Alle Träger finden es richtig, dass die Schließung angeordnet wurde. Denn die Beschäftigten mit Behinderung sind mitunter deutlich gefährdeter und anfälliger für das Coronavirus als andere Beschäftigte. ___STEADY_PAYWALL___
Allerdings ist auch der Betreuungsaufwand für Menschen mit Behinderung teils erheblich. Gerade für die Familien – viele der Eltern sind oft lebensälter und selbst Risikogruppe – bricht nun die wichtige Tagesstruktur zusammen. Sie sind überfordert, wenn ihre Kinder nun ganztägig zu Hause sind und entsprechend intensive Pflege und Betreuung brauchen.
Viele Beschäftigte der Werkstätten leben in Wohnheimen für Behinderte. Dort gibt es die entsprechenden Betreuungsstrukturen nicht, da die meisten Bewohner*innen tagsüber ja in den Werkstätten sind. Außerdem gibt es Menschen, die alleine leben. Sie werden ambulant betreut.
Die angeordnete Schließung – binnen eines Tages – hat die Einrichtungen vor massive Herausforderungen gestellt. Denn sie wurden verpflichtet, auch von jetzt auf gleich die Betreuung für die Beschäftigten an einem anderen Ort sicherzustellen – beispielsweise in Kooperation mit den Wohnheimen. Daher gibt es in allen Werkstätten auch eine Notbetreuung, bis sich das neue System eingependelt hat.
Unklare Lage sorgte für große Unruhe in der Belegschaft der Werkstätten
Dass die Entscheidung spät kam, sorgte für Unruhe. Denn als die Schließung von Schulen und Kitas in der vergangenen Woche angekündigt wurde, gab es auch viele Sorgen in den Werkstätten.
„Die Werkstätten standen bei der Politik hinten an, so war das Gefühl in der Mitarbeiterschaft. Der Erlass kam als Nachzügler. Das war nicht verständlich“, berichtet Martin Körber, Sozialtherapeutischer Geschäftsführer der Werkstätten „Gottessegen“. In den vergangenen Tagen seien immer mehr Menschen zu Hause geblieben und hätten sich aus Sorge krank schreiben lassen. „Auch viele Eltern waren in Sorge.“
Daher sei die Schließung begrüßt worden, auch wenn dies für einige bedeutet, dass sie nicht mehr die gewohnte Tagesstruktur haben. Das kann ein Problem darstellen. „Dort versuchen wir als Werkstätten, die Wohnheime bei der Aufrechterhaltung einer Tagesstruktur zu unterstützen“, so Körber. Sie unterhalten selbst Wohnheime mit 130 Plätzen in Dortmund und Witten. Sie zählen 440 Menschen mit Behinderung, die bei ihnen in Dortmund arbeiten.
Wenn die eigenen Fachkräfte nun beispielsweise in den Wohnheimen eingebunden werden, stellt sich – zumindest vorerst – nicht die Frage nach der eigenen beruflichen Zukunft. Die 130 angestellten Fachkräfte hätten jedenfalls Anspruch auf Kurzarbeitergeld. Nicht so die behinderten Beschäftigten, die in einem anderen Beschäftigungsverhältnis sind. „Sie sind freigestellt und wir bezahlen sie weiter, in der Hoffnung, dass die Kostenträger eine Rückerstattung vornehmen“, betont Martin Körber. Die anderen Träger verfahren ebenfalls so.
Fachkräfte aus den Werkstätten unterstützen nun in den Wohnheimen
Bei den Werkstätten „Über den Teichen“ sind 570 Menschen mit Behinderung Beschäftigt. Außerdem gibt es 160 Fachkräfte, die in den Werkstätten und den Wohnhäusern in der Betreuung eingesetzt sind.
Sie versuchen, dass die Betreuungspersonen aus dem Betrieb nun auch ihre Kolleg*innen aus dem Betrieb zu Hause unterstützen. Denn Vertrauen ist wichtig, verdeutlicht Philipp Richter, Geschäftsführer der Werkstätten „Über den Teichen“.
Die Fachkräfte aus den Werkstätten sind in den Wohnheimen sehr willkommen. Denn dort gibt es krankheitsbedingt ohnehin Vakanzen. Nun würden passgenaue Unterstützungen organisiert.
Vertraute Gesichter würden dabei helfen, das Unverständnis bei einigen der Beschäftigten zu mildern. Denn die Entscheidung zur Schließung und die Gründe sind beispielsweise Menschen mit geistiger Behinderung oft nur schwer zu vermitteln.
Wäscherei, Bauernhof, Lebensmittelladen uznd Reiterhof sind nicht einfach zu schließen
Größter Dortmunder Akteur in diesem Feld ist die Arbeiterwohlfahrt. Bei ihr sind rund 950 Menschen mit Behinderungen in verschiedensten Bereichen beschäftigt – teils sehr dezentral in sehr unterschiedlichen Projekten. Fast 400 Menschen – 280 vollzeitverrechnete Stellen – arbeiten mit den Behinderten.
Die Schließung hält die AWO aus gesundheitlicher Sicht für richtig. Die Verfügung aber – die Rede war von einem Betretungsverbot – sieht AWO-Werkstattleiter Klaus Hermansen in Teilen kritisch. Denn die AWO hat den Anspruch an ihre Werkstätten, nicht nur eine Behindertenbetreuungseinrichtung, sondern auch ein Wirtschaftsbetrieb zu sein. Die Menschen, die hier zum Arbeiten kommen, sollen produktiv sein und sich auch so fühlen. „Sie erbringen hier eine gesellschaftlich relevante Wirtschaftsleistung – und die ist gefährdet“, macht Hermansen deutlich.
So werden von der Wäscherei beispielsweise 40 Seniorenheime beliefert. „Wenn wir schließen, haben sie in drei Tagen keine Wäsche mehr“, erläutert der Leiter der AWO-Werkstätten. Dieser Betriebsteil wird nun von Beschäftigten und Produktionshelfer*innen ohne Behinderungen auch aus anderen Bereichen aufrecht erhalten.
Nicht zu schließen ist beispielsweise auch der Schultenhof: Hier sollen weder die Tiere verhungern noch der Hofladen – ein beliebtes Bio-Lebensmittelgeschäft – schließen. Auch der Reiterhof ist nicht einfach zu schließen – auch hier müssen sich Menschen um die Tiere kümmern. Das sind alles Beispiele für produktive Tätigkeiten, denen die Beschäftigten auch gerne nachgehen.
Behinderte sind nicht nur Pflegefälle, sondern auch produktive Arbeitnehmer*innen
„Das sind nicht nur Pflegefälle, sondern Arbeitnehmer*innen. Sie sind stolz auf ihre Arbeit – dass sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben und auch ihr eigenes Geld verdienen.“ Dies ist – zumindest vorerst nicht gefährdet. Hermansen hofft – wie seine Kollegen der anderen Werkstätten – dass dies die Kostenträger übernehmen. „Wir zahlen hier Gehälter aus für Tätigkeiten, die gar nicht mehr erbracht werden“, verdeutlicht der Werkstattleiter.
Doch auch um die Menschen selbst macht sich Klaus Hermansen große Sorgen. Denn die Tagesstruktur sei für Menschen mit Behinderungen besonders wichtig. Änderungen von Routinen wirkten belastend. Auch wenn Wohnheime dies teilweise auffangen könnten, wohnten doch zwei Drittel der behinderten Beschäftigten bei ihren teils sehr betagten Eltern, selbstständig oder im Ambulant Betreuten Wohnen.
„Sorgen mache ich mir vor allem um die Menschen mit psychosozialen Problemlagen. Für die ist es ist extrem wichtig, dass sie regelmäßige Kontakte haben“, erklärt Hermansen. Für die fallen nun 35 Stunden pro Woche, in denen sie auf der Arbeit sind, weg. „Sie dürfen nicht in Sorgen, Ängste und Depressionen verfallen. Daher müssen wir sehen, ob wir da nicht noch was anbieten müssen“, so Hermansen.
Einrichtungen der Eingliederungshilfe des Diakonischen Werkes ebenfalls geschlossen
Nicht nur die Werkstätten, auch andere Einrichtungen der Eingliederungshilfe sind von der angeordneten Schließung betroffen: Beim Diakonisches Werk sind in Dortmund vor allem die Angebote im Diakoniezentrum Sternstraße betroffen, wo die Diakonie eine Kontaktstelle und einen Kontaktclub unterhält, die für Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen Einzel- und Gruppenangebote sowie Tagesaufenthalte und Freizeitangebote bieten.
„Bis auf Weiteres stehen die Mitarbeitenden im Unionviertel ihren Klientinnen und Klienten nur noch telefonisch zur Verfügung. Zahlreiche Menschen die, diese Einrichtungen nutzen, sind ebenfalls im Ambulant Betreuten Wohnen oder haben gesetzliche Betreuer*innen. Auch diese Dienste finden derzeit nur sehr eingeschränkt statt“, berichtet Diakonie-Sprecher Tim Cocu.
Die Diakonie betreut hier eine hohe Zahl von Menschen, die in besonderer Weise gefährdet sind, insbesondere Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen oder psychischen Erkrankungen. Viele von ihnen sind aufgrund ihrer psychosozialen Problemlagen körperlich geschwächt oder krank.
Deswegen sei es derzeit unumgänglich, persönliche Kontakte untereinander zu vermeiden. Die Mitarbeitenden vor Ort versuchten, so gut es geht, den Menschen weiterhin telefonisch ein Ansprechpartner zu sein. Auch das Förderzentrum Rolandstraße sowie deren Zweigstelle in Lütgendortmund, wo etwa 300 Kinder von Fachkräften zahlreicher Disziplinen gefördert werden, ist von der Schließung betroffen.
Lebenshilfe fordert die Eingliederungshilfe auch mit Schutzmaterialien auszustatten
Die Schließung der Werkstätten für Menschen mit Behinderung wird von der Lebenshilfe NRW begrüßt. Diese hatte befürchtet, dass die Werkstätten zu einem Katalysator der Verbreitung des Virus in den Wohneinrichtungen und Familien werden könnten.
„Die Menschen mit Behinderung, die bekanntlich zur Risikogruppe gehören, können die Hygienevorgaben trotz Aufklärung nur schwer einhalten. Sie suchen gerade in solchen Ausnahmesituationen den Kontakt zu betreuenden Mitarbeiter*innen und Kolleg*innen“, betont Philipp Peters.
„Diese Menschen nehmen den Virus dann mit nach Hause und infizieren in den Familien Angehörige (oft ältere Eltern jenseits der 60 Jahre, wenn sie noch zuhause wohnen) oder Betreuungspersonal in den Wohneinrichtungen. Dies ist für die Wohnstätten gefährlich“, hatte Peters bereits vor der angeordneten Schließung betont.
Die Lebenshilfe NRW hat(te) die Sorge, dass dort zunehmend Personal erkrankt ausfällt. „Die Personalsituation in den Häusern ist durch den Fachkräftemangel schon angespannt, wenn die Mitarbeiter*innen nun noch ausfallen, ist die Versorgungs- und Betreuungssituation nicht mehr gewährleistet“, so Peters.
Nicht zuletzt appelliert Lebenshilfe-Landesgeschäftsführerin Bärbel Brüning an alle Verantwortlichen des Gesundheitsbereichs, die Eingliederungshilfe in Bezug auf Schutzmaterialien genauso wie Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen unbedingt zu berücksichtigen. Bereits jetzt gibt es Engpässe auch in verschiedensten Wohnformen.
Weitere Informationen:
Stellungnahme der Stadt Dortmund zur Schließung
- Nach der Weisung des NRW-Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales sind von dem Betretungsverbot ausgenommen Nutzerinnen und Nutzer, die im eigenen häuslichen Umfeld untergebracht sind und deren Betreuungs- oder Pflegeperson eine unverzichtbare, beruflich gebundene, Schlüsselperson ist.
- Die Pflege und Betreuung soll weiterhin in der bisherigen Einrichtung erfolgen, wenn eine private Betreuung insbesondere durch Familienangehörige oder durch flexible Arbeitszeiten oder Homeoffice nicht gewährleistet werden kann.
- Die Unentbehrlichkeit der Betreuungsperson soll der betreffenden Einrichtung durch eine schriftliche Bestätigung des jeweiligen Arbeitgebers nachgewiesen werden.
- Ausgenommen sind allgemein Nutzerinnen und Nutzer, deren pflegerische oder soziale Betreuung für den Zeitraum, in dem sie sich normalerweise in einer Werkstatt aufhalten, nicht sichergestellt ist.
- Die Schließung oder Teilschließung von Werkstätten für Menschen mit Behinderung kann zur Folge haben, dass Personen in ihrer häuslichen Umgebung umfassender betreut werden müssen.
- Ansprechpartner für Betroffene ist in diesen Fällen zunächst die jeweilige Werkstatt. Unter Umständen erfolgt dann eine interne Abstimmung mit dem LWL als zuständigem Kostenträger.
- Auf jeden Fall wird gewährleistet, dass keine Menschen ohne ausreichende Betreuung bleiben.
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