Zentrale Gedenkveranstaltung gestern Abend – am 27. Januar, dem Internationalen Holocaust-Gedenktag – in der Rotunde des Museums für Kunst und Kulturgeschichte (MKK). Viele ernste bis grimmige Mienen. Ein nahezu unaussprechliches, weil historisch einmaliges Verbrechen in der Menschheitsgeschichte – der mit industrieller Kälte organisierte Massenmord an Menschen – fand damals vor 75 Jahren mit der Befreiung durch die Rote Armee in Auschwitz ein reales wie darüber hinaus symbolisches Ende. Gegen das Nicht-wahrhaben-Wollen, was einst geschah, und gegen Vernagelt-Ewiggestrige, die heute weiterhin Hass gegen alles Fremde säen, engagieren sich Dortmunder*innen der Mehrheitsgesellschaft und setzen ein Zeichen gegen Dummheit und Intoleranz, für eine vielfältige und solidarische Stadt. – Das musikalische Rahmenprogramm gestaltete die Pianistin Armine Ghuloyan (Klavier).
Oberbürgermeister Ullrich Sierau: Verpflichtung, „dass es nie wieder zum Faschismus kommen darf“
An diesem Abend in der Rotunde des MKK: Nachdenklichkeit, bedächtiges Schweigen unter den Zuhörer*innen, aber auch Entschlossenheit – sich ausdrückend etwa im Grußwort von Ullrich Sierau. Der Oberbürgermeister bekräftigt: sie alle fühlten sich verpflichtet, dafür einzutreten, „dass es nie wieder zum Faschismus kommen darf“.
Mahnende wie hoffnungsvolle Erinnerung hat er auf dem Zettel: an das, was war, was ist und sein sollte. Was er in diesem Sinne weiter gestärkt wissen möchte, betrifft die Erinnerungsarbeit in Dortmund. Sierau erwähnt unter anderem die regelmäßigen Gedenken an die Novemberpogrome, den Antikriegstag, die Gedenkfeiern an die Opfer in der Bittermark kurz vor Kriegsende.
Dann ist da die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache, es gibt überall in der Stadt verteilt die Stolpersteine und da ist letztlich auch Dortmunds Mitgliedschaft bei AMCHA (psychosoziale Hilfe für Überlebende von Krieg und Gewalt). Alles Institutionen, die bitter nötig sind. Denn, zitiert Ullrich Sierau den früheren Bundespräsidenten Roman Herzog: „Geschichte verblasst schnell, wenn sie nicht Teil des eigenen Erlebens war.“
Klare Kante gegenüber Diskriminierung, Rechtspopulismus, Rassismus und Antisemitismus
Rückt diese Geschichte in die Ferne, dann auch Auschwitz. Als ein Synonym. Für eine lange Liste dessen, dem entschieden entgegenzutreten ist: von unfassbarer Unmenschlichkeit bis zur ideologisch motivierten Perversion. Was hinzukommt: „Damals haben viele, viel zu viele weggeschaut. Das darf nie wieder passieren“, mahnt der OB.
Doch: Rassismus und Diskriminierung seien in Deutschland traurige Realität, umso erschreckender: Antisemitismus und Rechtspopulismus. Und deshalb umso wichtiger, dass sich junge Menschen auseinandersetzten. In diesem Zusammenhang: viel Lob für die Botschafter der Erinnerung, die sich dem Vergessen (aktiv und mit Engagement) widersetzen.
„Wir müssen politisch und auch gesellschaftlich klar machen, dass das nicht hinnehmbar ist“, macht Sierau unmissverständlich deutlich. Meint: „Wir dürfen den geistigen Brandstiftern nicht das Feld überlassen.“ Das erfordere Arbeit, aber auch Mut.
Es dauerte „nur“ 25 Jahre: von der Gründung der NSDAP bis zum vollendeten Völkermord
Pfarrer Ralf Lange-Sonntag (EkvW; Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit) verweist darauf, wie schnell es historisch gehen kann, wo zerstörerische Kräfte wüten: zwischen der Gründung der NSDAP 1920 und der Befreiung des Auschwitz-Komplexes seien gerade einmal 25 Jahre vergangen. „25 Jahre, in denen Europa in Schutt und Asche gelegt worden ist.“
In dieser Zeit habe aus einer radikalen Minderheit eine Mehrheit werden können, die sich gerne hätte einspannen lassen. Die weggeschaut hat, wo es drauf angekommen sei – „und nachher wussten sie von nichts mehr“, so der Theologe. Die Opfer hingegen haben ein Leben lang gelitten. Unter ihrem Trauma – weitergegeben in die nächste Generation – und ihren Schuldgefühlen: Warum habe gerade ich überlebt?
Die Benennung von Folgewirkungen des Unsäglichen führt auch auf deren Reflexe in der Gegenwart. Wie es nicht erst 1920 mit der NSDAP-Gründung angefangen habe, sofern die sich organisierenden Nazis an Bestehendes hätten anknüpfen können – verweist der Geistliche mahnend auf die völkischen-rassistischen Wurzeln des Nationalsozialismus-, so lebt auch heute wieder Vergangenheit in der Gegenwart. Hat dort nichts zu suchen.
Das wirft bekannte, aber komplexe Fragen auf: „Wie können wir uns Antisemitismus und Menschenhass gegenüberstellen?“ – „Wie können wir das alles an die nachfolgende Generation weitergeben?“, formuliert Lange-Sonntag mit imminentem Aktualitätsbezug.
Spannungsfeld: Erinnerung an Holocaust, andere Verfolgte des NS und deutsche Opfer
Auch der Umgang mit den NS-Verbrechen hat eine Geschichte. Es hat mehrere Jahrzehnte gedauert, bis der Holocaust seit den 1990er Jahren zu einem zentralen Bezugspunkt der historischen Erinnerung in der Bundesrepublik wurde.
Sie, die Erinnerung an die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden stand dabei immer in einem Spannungsfeld zur Erinnerung an die deutschen Opfer des Krieges und der an andere Gruppen von Verfolgten und Ermordeten des Nationalsozialismus – wie etwa der Sinti und Roma, Homosexueller, psychisch Kranker oder Behinderter.
In seinem Vortrag („75 Jahre danach. Der Umgang mit dem Holocaust in der Bundesrepublik“) diskutierte der Historiker Prof. Constantin Goschler (Ruhr-Uni Bochum) die Veränderungen dieser – in den vergangenen 75 Jahren auch teils von verschiedenen Interessenlagen geprägten – Konstellation. Irgendwo zwischen kollektiver Verdrängung und authentischen Intentionen erinnernder Aufarbeitung.
Zugleich ging es dem Vortragenden um tagespolitische Aktualität und gegenwärtige Entwicklungen im Lande. Der Vorsitzende des Beirats der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache fragte unter anderem: Was bedeuten der Tod der letzten Zeitzeugen, die Auswirkungen von Migration und die zunehmende Auseinandersetzung mit den Folgen des deutschen Kolonialismus für den Umgang mit dem Holocaust in der Bundesrepublik?
Helmut Kohl: 27. Januar als nationaler Gedenktag für die Opfer des NS darf nicht arbeitsfrei sein
Fragen, welche die Gegenwart betreffen. Um aus der Vergangenheit zu lernen. Denn Gedenken ist nicht nur Selbstzweck, indem die Opfer des NS-Terrorregimes gewürdigt, geehrt werden.
Sondern auch Verpflichtung für das Engagement um eine Zukunft, in der Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung von Menschen wegen ihrer Herkunft, Lebensorientierung und Überzeugungen – bis hin zu ihrer Ermordung – nie, nie wieder eine Chance haben dürfen.
Der 27. Januar ist seit 1996 in der Bundesrepublik Nationaler Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Goschler erinnerte daran, dass der damalige Kanzler Helmut Kohl die Einführung seinerzeit (und bezeichnenderweise) von der Bedingung abhängig gemacht hatte, dass dem Gedenktag nicht der Status eines arbeitsfreien Feiertages verliehen würde. Das wäre wohl sinnfällig zu viel des Erinnerns gewesen.
Ist der 27. Januar ein angemessenes Datum zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus?
Zu erinnern ist zugleich an kritische – antifaschistische – Stimmen zum Gedenktag, die bis heute nicht verstummt sind. So schrieb Michal Bodemann 1999 in der TAZ:
„Der 27. Januar ist ein fernes, konstruiertes Datum, ohne deutsche Erinnerung, in einem anderen Land und ohne deutsche Akteure, denn selbst die SS-Wachmannschaften waren damals bereits verschwunden.
Für die Verfolgtenseite mag dieser Tag ein Symbol der Befreiung sein, es waren ihre Angehörigen, die nun das Ende dieses Schreckens vor sich sahen. In Deutschland stand hinter der Entscheidung für diesen Tag offenbar die wohlmeinende, doch naive und beschönigende Idee, in Solidarität mit der Opferseite an das Ende des Mordens zu erinnern.
Dadurch, daß der Befreiung von Auschwitz statt seiner Errichtung gedacht wird, stellt sich Deutschland an die Seite der Opfer und der Siegermächte – ein Anspruch, der Deutschen nicht zusteht. Der 27. Januar suggeriert darüber hinaus ein ,Ende gut, alles gut’. Ein Tag der Erinnerung für Deutsche soll er sein, doch tatsächlich ist es ein Tag der Zubetonierung von Erinnerung, ein Tag, der den historischen Schlußstrich signalisiert.“
Weitere Informationen:
- Veranstalter waren die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache, das Museum für Kunst und Kulturgeschichte, die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V. Dortmund, die VHS Dortmund und Auslandsgesellschaft.
- Michal Bodemann in der TAZ vom 26. Januar 1999; hier:
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