Von Klaus Winter
Die Nummerierung der Häuser einer Straße beginnt in Dortmund gewöhnlich mit „1“. Natürlich gibt es Ausnahmen von der Regel. So ist die niedrigste Hausnummer an der Westerbleichstraße die „26“! Das Haus mit dieser Nummer steht an der Ecke Kurfürstenstraße. Von hier verläuft die Westerbleichstraße nach Westen bis zur Schützenstraße. Schaut man von dieser Stelle dagegen nach Osten, so blickt man in den Fußweg, der am Dietrich-Keuning-Haus vorbeiführt und sich bis zur Leopoldstraße erstreckt. Der heutige Fußweg war in früheren Zeiten der Anfang der Westerbleichstraße. Von diesem Straßenabschnitt soll im Folgenden die Rede sein.
Alte Adressbücher der Stadt Dortmund dokumentieren erste Bebauung
In den 1870er Jahren gab es im Zuge der späteren Westerbleichstraße kaum Bebauung. Das Adressbuch der Stadt Dortmund für 1877 dokumentiert, dass insgesamt vier Häuser – mit den Hausnummern 1 und 2! – am Einmündungsbereich zur Leopoldstraße lagen. Von Bestand war diese Situation nicht. Das Adressbuch für 1878 kannte nur noch Haus Nr. 2.
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Dieser Bebauungszustand war noch gültig, als 1883 die Vorbereitungen für die Anlage eines städtischen Viehmarktes mit angeschlossenem Schlachthof begannen.
Das dafür genutzte Gelände wurde von Stein-, Kurfürsten-, Uhland-, Mallinckrodt- und Leopoldstraße begrenzt, doch blieben der östliche und westliche Grenzbereich der Wohnbebauung vorbehalten, und die verdichtete sich im Laufe der Jahre mehr und mehr.
Westerbleich- und Viehmarktstraße teilten das Schlachthofgelände
Für Viehmarkt und Schlachthof wurden auf der bis dahin unbebauten Fläche diverse Betriebsgebäude errichtet und ab 1885 in Betrieb genommen. Der Straßenverlauf der Westerbleichstraße in diesem Abschnitt blieb davon jedoch unberührt.
Es entstanden an ihr zwei neue Häuser. Eigentümer beider Gebäude war die Stadt Dortmund. In dem einen wohnte ein Kassierer, in dem anderen ein Portier – zweifellos standen die beiden in Diensten des Viehmarkts bzw. des Schlachthofs.
Die Westerbleichstraße mit ihrem Ost-West-Verlauf teilte das Vieh- und Schlachthof-Gelände in zwei ungefähr gleich große Hälften. Mit der Viehmarktstraße wurde dann auch eine Nord-Süd-Verbindung geschaffen, die gegenüber der Steinwache begann und in die Mallinckrodtstraße mündete. Westerbleich- und Viehmarktstraße kreuzten sich ungefähr in der Mitte des Geländes.
Nordbad, Turnhalle und das „Panorama“ zogen die Bevölkerung an
Die Westerbleichstraße zwischen Leopold- und Kurfürsten-/Uhlandstraße war, da sie durch den Vieh- und Schlachthof führte, kaum das Ziel von Spaziergängern, sondern eine praktische kurze Verbindung für alle, die von der Schützenstraße zur Münsterstraße wollten. Aber in diesem Straßenabschnitt lagen auch interessante Ziele.
So war hier 1892 die nördliche Badeanstalt eröffnet worden. Sie trug die Hausnummer Westerbleichstr. 11. Viele tausend Badegäste, auch Schulklassen und Sportvereine suchten bis in die 1970er Jahre das Nordbad auf.
Östlicher Nachbar des Nordbads (Westerbleichstr. 9) war eine ebenfalls bereits vor 1900 erbaute Turnhalle. Sie diente hauptsächlich dem Schulbetrieb. Auch ihretwegen kamen jahrzehntelang viele Menschen zur Westerbleichstraße.
Zerstörtes Schlachthof-Gelände wurde nach dem Krieg wieder aufgebaut
Ein Anziehungspunkt, der nur zwischen 1900 und 1912 bestand, war das „Panorama“. Das war ein hölzerner Rundbau, dessen Innenwand vollständig mit einem Gemälde versehen war, das meistens ein patriotisches Motiv wie Szenen einer siegreichen Schlacht darstellte.
Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges erlitten Vieh- und Schlachthof schwere Zerstörungen. Nach Kriegsende begann der Wiederaufbau. Und obwohl der Nachkriegsbetrieb dem der Vorkriegszeit nicht nachstand, sollte sich einiges ändern.
Eine Mauer um den Schlachthof sperrte die Westerbleichstraße
1959 wurde der Schlachthof mit einer Mauer umgeben und der über das Betriebsgelände führende Abschnitt der Westerbleichstraße amtlich eingezogen. Somit stand er für den öffentlichen Verkehr nicht mehr zur Verfügung. Die für eine große Bevölkerungsgruppe kürzeste Verbindung zwischen Schützen- und Münsterstraße war nicht mehr vorhanden.
Der Fortfall des östlichen Teils der Westerbleichstraße stieß auf den Widerstand der Nachbarschaft, die nun einen großen Umweg über Stein- oder Mallinckrodtstraße in Kauf nehmen musste, wenn sie zur Münster- oder Schützenstraße wollte.
Der Protest verhallte nicht ungehört. Für den nicht mehr zur Verfügung stehenden Straßenabschnitt sollte ein Ersatz geschaffen werden: eine rund 220 Meter lange Fußgängerbrücke, die über das Schlachthof-Gelände führte.
Der städtische Haupt- und Finanzausschuss stellte für die Brücke, die später „Schlachthof-Brücke“, „Schweinebrücke“ und „Laufbahn“ genannt wurde, 250.000 DM bereit.
Die „Laufbahn“ über dem Schlachthof stellte die kurze Ost-West-Wegeverbindung wieder her
Im Winter 1959 /60 begannen die Arbeiten an der Laufbahn über das Schlachthof-Gelände. Im Mai 1960 stand das Stahlskelett, und im Bereich des Nordbads war bereits der größte Teil der Betonarbeiten beendet. Dagegen wurden am westlichen Ende erst die Fundamente für die neue Brücke geschaffen.
Im September 1960 waren die Arbeiten abgeschlossen. „Gerade noch rechtzeitig zum Kirmesbeginn wurde die Fußgängerbrücke im Zuge der Westerbleichstraße neben dem Schlachthof fertiggestellt“, berichtete die Presse.
Vorübergehend konnten die Passanten von der Brücke auf das Schlachthof-Gelände herunterschauen, dann wurde ihnen der Blick durch einen Sichtschutz dauerhaft verwehrt.
Verlegung des Schlachthofs macht den „Laufgang“ überflüssig
Wie viele Passanten die Fußgängerbrücke über den Schlachthof in den etwa 14 Jahren ihres Bestehens genutzt hatten, hat wohl niemand gezählt. Das Ende der „Laufbahn“ ging einher mit der Verlegung des Schlachthofs und stand auch im Zusammenhang mit dem Stadtbahn-Bau und der Stadtsanierung Nord III.
Durch diese wurde das vormalige Vieh- und Schlachthofgelände in den heutigen Park um das Dietrich-Keuning-Haus umgewandelt.
Mitte März 1974 wurde ein „provisorischer Gehweg“ zur Benutzung freigegeben, der im Zuge der alten Westerbleichstraße von der Kurfürsten-/Uhlandstraße bis zum Nordbad führte. Wenige Tage später begannen die Abbrucharbeiten an der „Laufbahn“ – erst fiel der Sichtschutz, dann wurde das Stahlgerippe beseitigt.
Aus einem ursprünglichen Provisorium wurde ein Dauerzustand – bis in die Gegenwart
Der 1974 angelegte „provisorische Gehweg“ besteht in seinem damals festgelegten Verlauf noch heute und führt sowohl zur Stadtbahn-Haltestelle Leopoldstraße als auch zum Dietrich-Keuning-Haus mit dem neuen Nordbad.
Das Veranstaltungszentrum Dietrich-Keuning-Haus besitzt selbstverständlich eine postalische Anschrift.
Überraschend ist, dass der Name „Westerbleichstraße“ darin nicht vorkommt. Die Anschrift lautet vielmehr „Leopoldstr. 50-58“.
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Reader Comments
Lea
Besonders interessant ist das Foto der „Laufbahn“ von 1974. Ist das Gebäude im Hintergrund rechts das alte Nordbad und Links die Halle des Viehmarktes?
Klaus Winter
Das Nordbad ist auf dem Bild von 1974 nicht zu sehen. Das fragliche Gebäude ist eine Halle des Schlachthofs.