Von Klaus Winter
Zu den vielen Folgen des Ersten Weltkrieges zählte im Deutschen Reich eine schwere Wohnungsnot. Zur Front eingezogene Bauarbeiter aller Fachrichtungen und Materialknappheit waren wesentliche Einflussfaktoren, die die Errichtung neuer Häuser und Wohnungen in den Kriegsjahren verhindert haten. Aber auch die potentiellen Bauherren standen in den Schützengräben. Und die daheim Gebliebenen hatten genug andere Probleme und Sorgen, als sich um Baumaßnahmen zu kümmern.
Berliner Gewerkschaft wollte im großen Stil Wohnhäuser errichten
Der Stadtverwaltung Dortmund war die Wohnungsnot aus eigener Anschauung zweifellos gut bekannt. Je länger der Krieg dauerte, desto offensichtlicher wurde das Problem. Deshalb darf man wohl annehmen, dass Stadtbaurat Strobel ein offenes Ohr für praktikable Lösungsvorschläge hatte, ganz besonders natürlich, wenn sie mit kurzen Bauzeiten und geringen Kosten verbunden waren.
Ein solcher Vorschlag wurde Strobel Mitte September 1918, also noch vor Kriegsende, von einem Dr. Sklarek, Vertreter der Gewerkschaft Mannebach, Berlin-Wilmersdorf, vorgestellt. Sklarek führte aus: Da die Gewerkschaft keine Erzvorräte mehr besaß und deshalb außer Betrieb war, wollte sie nun im großen Stil Arbeiterwohnhäuser in einem Baugussverfahren herstellen. Die Häuser – Böden, Decken, Treppen – wurden gebaut, indem man eine Betonmischung zwischen Gusseisenplatten goss.
Sklarek konnte darauf verweisen, dass er bereits vor Ausbruch des Weltkrieges auf diese Weise Häuser in St. Denis bei Paris hergestellt hatte. Da er dann zum Heeresdienst eingezogen worden war, hatte er in Deutschland bisher noch keine Häuser mit dem Gussverfahren bauen können. Nun hatte er aber das Patent dafür angemeldet. In Dortmund sollte ein Probehaus entstehen, dass auch für Werbezwecke genutzt und für Besichtigungen zur Verfügung stehen sollte.
Bauidee stieß in Dortmund auf großes Interesse
Baurat Strobel stand dem Vorhaben nicht abgeneigt gegenüber, zumal die Gewerkschaft Mannebach das Haus zum Selbstkostenpreis bauen wollte. Er fordert Sklarek deshalb auf, die notwendigen Unterlagen einzureichen. Auch die Bau-Kommission zeigte sich interessiert und stellte für das Projekt einen städtischen Lagerplatz an der Mallinckrodtstraße am Nordrand des Schlachthof-Geländes und gegenüber der Einmündung der Scheffelstraße zur Verfügung.
Im November 1918 lagen dem Stadterweiterungsamt Details für das Musterhaus vor. Die Baukosten, so die Gewerkschaft, könnte bei einer Standardisierung von Türen und Fenstern noch gesenkt werden. Ein Angebot über den Bau von 50 Häusern, wie es wohl von Dortmund gewünscht war, mochte die Gewerkschaft jedoch noch nicht vorlegen. Man wollte sich erst die Erfahrungen mit dem Musterhaus zu Nutze machen.
Direkt nach Kriegsende wurde der Vertrag geschlossen
Am 12. November 1918 – am Tag, nach dem mit dem Waffenstillstand von Compiègne der Erste Weltkrieg geendet hatte– stimmte der Magistrat dem Vorhaben der Gewerkschaft Mannebach zu. Der Bauerlaubnisschein wurde am 10. Dezember ausgefertigt. Die Baukommission bestimmte aber, dass das Projekt einzustellen sei, wenn sich zeigen sollte, dass die Kosten sich denen eines herkömmlichen Hausbaus nähern würden. Früh wurde auch festgelegt, dass das städtische Tiefbauamt den Neubau nutzen sollte.
Der Vertrag zwischen der Gewerkschaft Mannebach und der Stadt Dortmund wurde am 7. Januar 1919 geschlossen. Die Gewerkschaft sollte das Büro- und Wohnhaus für den festen Betrag von 29.000 Mark errichten. Mit den Arbeiten sollte unmittelbar nach Vertragsabschluss begonnen und das schlüsselfertige Haus am 1. Mai 1919 übergeben werden.
Baufortschritte wurden in einem Tagebuch dokumentiert
Baurat Strobel ordnete die Führung eines Bau-Tagebuches an. Dieses überliefert, dass das Dortmunder Baugeschäft Weber, das von Mannebach mit den Arbeiten beauftragt worden war, am 15. Februar mit der Lieferung der Baumaterialen zum Bauplatz beginnen wollte. Am 5. März begannen die Ausschachtungsarbeiten und am 22. März wurde das Fundament eingebracht.
Dann setzten diverse Schwierigkeiten ein: Die Eisenplatten, zwischen denen die Wände aus einer Mischung von Zement, Hochofenschlacke und Schlackensand gegossen werden sollten, wurden nicht pünktlich zur Baustelle geliefert. Der Arbeiter- und Soldatenrat forderte höhere Löhne für die Arbeiter. Zeitweise stand kein Strom zur Verfügung, weil kein Zähler installiert war.
Beim Betongießen traten Probleme auf
Am 24. April begann das Aufstellen der Schalung und am 7. Mai der Betonguss. Doch der Guss misslang, weil der Beton sich nicht wie geplant über vorbereitete Holzrinnen verbreitete. „Die Schlacke bleibt liegen, nur die Zementbrühe läuft in die Schalung.“ Deshalb wurde das Gießen gestoppt und der Beton von den Arbeitern in die Schalung geschüttet.
Bei der Ausschalung am 28. Mai zeigt sich, dass das Aussehen der Wände und die Beschaffenheit der Kanten einen Verputz notwendig machten, der eigentlich nicht vorgesehen gewesen war. Durch die ungeplanten Putzarbeiten wurden die Baukosten in die Höhe getrieben.
Am 29. Mai begann man mit der Aufstellung des Dachstuhls, am 2. Juni mit dem Hochziehen der Kamine. Es folgten Innenputz, Herstellung der Entwässerungsanlagen, Dachdeckerarbeiten usw. Am 8. Juli kamen die Anstreicher und nach weiteren zwei Tagen die Glaser.
Gewerkschaft Mannebach war mit dem Neubau sehr zufrieden
Am 1. August, drei Monate später als geplant, wurde der Neubau dem Tiefbauamt als Nutzer übergeben. Das Amt richtete im Erdgeschoss Büroräume ein und im Obergeschoss eine Wohnung für den Verwalter.
Die Gewerkschaft Mannebach zeigte sich mit Ergebnis sehr zufrieden: „Die – bei einer Probe unvermeidlichen – Hemmungen lagen u. a. darin, dass wir als nicht ortsansässige Firma unsere Anweisungen zur Ausführung einem örtlichen Unternehmer übertragen hatten, über dessen Eignung wir uns getäuscht haben. […] Trotzdem war der Bau rascher fertig, als ein gleich grosser Ziegelbau.“ Und deutlich billiger als in traditioneller Bauweise erstellt, war er auch gewesen.
Dortmunder Gusshaus zog Interessenten an
Die Gewerkschaft hatte intensiv für ihre Gusshaus-Idee geworben und dabei auf das in Dortmund entstandene Musterhaus verwiesen. Die Werbung hatte so früh eingesetzt, dass die Stadt Leipzig bereits am 3. Dezember 1917 – also schon rund einen Monat vor dem Vertragsabschluss zwischen der Stadt Dortmund und der Gewerkschaft – anfragte, welche Erfahrungen man in Dortmund mit dem Musterbau gemacht habe.
Auch während der Baumaßnahme kamen Interessenten. So besuchten am 7. und 8. Mai 1919 Abordnungen auswärtiger Städte die Baustelle an der Mallinckrodtstraße. Und weil man in der Stadtverwaltung nach dem Bezug des Hauses damit rechnete, „daß das Probehaus sehr oft besichtigt wird“, sollte der hohe Bretterzaun an der Straßenfront beseitigt werden, weil er keinen Blick auf das Haus zuließ.
Interesse zeigte u. a. ein Regierungsbaumeister Fraenkel aus Berlin. Die Problemfelder von Betonhäusern waren ihm bekannt. Er fragte konkret nach Schwitzwasser, Beheizbarkeit, Ausblähungen, Rissbildungen u. a.
Gusshaus stand noch bis in die 1970er Jahre
Das Gusshaus der Gewerkschaft Mannebach überlebte den Bombenkrieg – ob unbeschadet oder mehr oder weniger zerstört, ließ sich nicht feststellen. Luftbildaufnahmen zeigen, dass es noch 1969 an seinem Platz stand. Es wurde wohl erst im Rahmen der Stadtsanierung Nord abgerissen, bei der auch der Viehmarkt und der Schlachthof beseitigt und die Seite zur Mallinckrodtstraße völlig neu bebaut wurde.
Wenn man heute an Bauprojekten vorbeigeht, stellt man fest, dass das Einschalen und Gießen von Decken und Wänden längst zum Alltag im Bauwesen gehört. Das Gusshaus der Gewerkschaft Mannebach 1919 aber war eine Pionierleistung!
Reader Comments
Bebbi
Danke für den mal wieder interessanten Bericht.