Ein altersschwacher Transporter mit französischem Kennzeichen hält auf der Mallinckrodtstraße. Zwei Männer steigen aus, öffnen die Schiebetüren des Laderaums. Etwa zehn Kinder und mehrere Frauen verlassen den Wagen. Sie saßen oder lagen auf der Ladefläche – Sitze gibt es in dem Transporter nicht.
Total erschöpft und hungrig steigen sie aus, machen sich über einen Imbiss her – ein Picknick mitten auf dem Mittelstreifen. Die Roma, die hier aus dem Transporter gestiegen sind, machen einen desorientierten Eindruck. So, als wenn sie nicht wüssten, wo sie gerade sind. Nach einer Stunde macht sich der Transporter wieder auf den Weg.
Die gestrandeten Menschen bleiben in der Nordstadt. Sie mischen sich unter ihre Landsleute, die zu Dutzenden im Schleswiger Viertel auf den Straßen stehen und sitzen. Was aus ihnen wird? Welches Schicksal sie haben und was ihnen noch bevor steht, weiß in dem Moment wohl niemand.
Niederschwellige Hilfen: Aufsuchende Arbeit durch AWO-Streetworker
Einer, der es vielleicht erfährt, ist Mirza Demirović. Der Sozialarbeiter ist Streetworker bei der AWO und kümmert sich schwerpunktmäßig um Neuzuwanderer in der Nordstadt.
Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen, die rumänisch, bulgarisch oder türkisch sprechen, suchen sie die Neuzuwanderer auf. Auf dem Nordmarkt, der Mallinckrodtstraße, der Schleswiger Straße sind sie unterwegs.
Sie laden sie ein zu einem kostenlosen Frühstück im Interkulturellen Zentrum (IKUZ) der AWO in der Blücherstraße. Sie möchten hören, was die Menschen bewegt, was sie erlitten haben und was sie brauchen. Dann bieten sie Hilfen an. Kostenlos.
Kostenlose Angebote lösen Skepsis aus – Bedrohung durch Geschäftemacher
Kostenlos? Ein Wort, was die Roma nicht zu kennen scheinen. Sie sind es nicht gewohnt, dass etwas ohne Bezahlung angeboten wird. Dubiose Geschäftsleute und Schlepper bieten den Familien an, bei den Amtsgängen zu helfen. Anmeldung, Kindergeldantrag, Wohnungssuche. Natürlich gegen Geld. Mehrere hundert Euro fließen, weiß Mirza Demirović.
Die AWO-Mitarbeiter gehen auf die Menschen zu, klären sie auf. Sie sind Entwicklungshelfer – mitten in Dortmund. Bei ihrer Arbeit sind sie von den Geschäftemachern auch schon bedroht worden. Schließlich gefährden sie und andere Hilfsorganisationen mit ihren kostenlosen Hilfsangeboten das Geschäftsmodell von Ausbeutung und Elend.
„Sie warnen sogar die Menschen vor uns. Schließlich könnte es ja nicht sein, dass jemand kostenlos Frühstück anbietet und dann noch kostenlose Hilfen“, berichtet der Sozialarbeiter von seinen Erfahrungen in der Nordstadt.
Erfolgsgeschichten und positive Beispiele in der Nordstadt
Menschen, die sich von diesen Lügengeschichten nicht haben abschrecken lassen, sind heute sehr dankbar und glücklich. So wie Fabian Lazar-Ion (39) und seine Frau Anisoara (31). Die beiden Rumänen aus Galati in der Moldau-Region sind vor neun Jahren nach Spanien gegangen, um dort zu arbeiten. Sie flohen vor der Perspektivlosigkeit, dem Hass auf Zigeuner und der Benachteiligung in ihrer Heimat.
In Spanien ging es ihnen gut. Sie lernten Spanisch und hatten beide Arbeit und ein Auskommen. Doch mit der Wirtschaftskrise war Schluss. „Wir bekamen keine Arbeit mehr“, berichtet der Vater von zwei Kindern.
Er hörte von seiner Schwester, dass es in Dortmund Arbeit gebe. Deren Mann hat – weil er selbst Türkisch spricht – bei einem türkischen Bauunternehmer in der Nordstadt Arbeit gefunden. Vor gut einem Jahr holte er seine Frau und seine Kinder nach.
Fabian und seine schwangere Frau Anisoara kamen mit ihrem Kind im Dezember 2013 bei der Schwester und ihrer Familie unter. Unter extrem beengten Verhältnissen – direkt am Nordmarkt. Denn ihre Verwandten haben selbst sieben Kinder.
Viele Hilfsangebote: Vom kostenlosen Frühstück bis zur Wohnungssuche
Sie suchten nun erfolglos nach Arbeit, Wohnung, Perspektive. Für Fabian war und ist klar, dass er selbst für das Auskommen seiner Familie sorgen will und muss. Ihr Leben änderte sich, als sie Mirza trafen. Der Streetworker und Übersetzerin Tatiana-Iolanda Christea luden sie zum Frühstück ein und zeigten Möglichkeiten auf. Aisoara ging gleich zur Schwangerschaftsberatung, die es bei der AWO auch auf Rumänisch gibt. Es gab Essenshilfe und auch eine finanzielle Unterstützung zum Start, damit die Familie in Dortmund Fuß fassen konnte.
Mittlerweile haben sie eine eigene kleine Wohnung. Es ist bereits die zweite. Die erste hatten sie sich liebevoll hergerichtet, mussten aber ausziehen. Der Vermieter hatte Strom und Wasser nicht bezahlt. Sie mussten raus. Beim neuen Vermieter klappt es. Doch optimal ist es nicht: Sie wohnen genau über einem rumänischen Lokal. Bei der lauten Musik können die Kinder nachts kaum schlafen. Doch beschweren wollen sie sich nicht – aus Angst, dann wieder ohne Wohnung dazustehen.
Arbeit sorgt für geregeltes Auskommen – Perspektive für Kinder
Beide haben mittlerweile Mini-Jobs beziehungsweise Saisonarbeit gefunden. Doch für einen Umzug in einen anderen Stadtteil – weg vom Drogenhandel und dem so genannten „Schwarzarbeiterstrich“ – reicht es finanziell noch nicht. Doch unzufrieden ist die Familie Lazar-Ion nicht. Im Gegenteil: Sie sind stolz auf das bisher erreichte.
Fabian will weiter seinen Plan verfolgen, seinen Kindern eine gute schulische Ausbildung und eine berufliche Perspektive zu bieten. Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg. Der älteste Sohn Ruben soll im Herbst in den Kindergarten gehen – dann wird er drei Jahre alt.
„Es spricht schon einige deutsche Worte“, freut sich der Papa. Er selbst sagt das auf Rumänisch. Denn noch lernen er und seine Frau erst Deutsch – ebenfalls bei der AWO.
Fließendes Wasser und Strom sind für viele Roma schon paradiesisch
Zwei Mal die Woche gibt Tatiana-Iolanda Christea Deutsch für Rumänen. Heute übersetzt Björn Bauernfeind – der Dortmunder hat selbst in Rumänien studiert und hilft bei der AWO. Für die Helferinnen und Helfer der AWO ist es immer wieder überraschend, wie unterschiedlich die Lebenseinstellungen und die Wahrnehmungen sind. Viele der Roma fühlen sich hier willkommen und sicher.
Eigentlich unvorstellbar, wenn man erlebe, unter welchen Umständen die Menschen teilweise in Dortmund hausen müssten, verdeutlicht Ricarda Erdmann, Leiterin der Integrationsfachdienste der AWO. Doch diese Bewertung basiere halt auf einer Sozialisierung in Deutschland – und den eigenen Lebensstandards.
Das kann Mirza nur unterstreichen: „Die schlimmste Bruchbude in der Nordstadt ist noch besser als ihr altes Zuhause. Für sie ist ein Traum erreicht, wenn sie Strom und fließend Wasser in der Wohnung haben.“ Denn in vielen Roma-Siedlungen in Rumänien gebe es im gesamten Ort kein fließendes Wasser. „Die Menschen tragen ihre Kleidung, bis es gar nicht mehr geht und verbrennen sie dann“, beschreibt Demirović die Lebenswirklichkeit vieler Menschen.
Roma kämpfen gegen Pauschalisierung: „Wir sind nicht alle gleich“
Doch es seien beileibe nicht alle gleich, verwehrt sich Fabian gegen Pauschalisierungen. Er will aus seinem Leben etwas machen, hat Ziele und arbeitet an Perspektiven. Natürlich gebe es Menschen ohne Antrieb, die nur auf der Mallinckrodtstraße stünden. Er kritisiert, dass nicht mehr Roma die kostenlosen Hilfsangebote annähmen.
Doch manchmal braucht es auch einen Schubs oder eben eine gezielte Ansprache. „Wir sind nicht alle gleich“, sagt auch seine Frau. Der Alltag auf der Mallinckrodtstraße erwecke einen falschen Eindruck. Daher wünscht sich Anisoara mehr interkulturelle Trainer und Sprachmittler, damit die Neuzuwanderer besser und schneller begreifen, wie das Leben in Dortmund funktioniert. Und wie die Spielregeln sind.
„Wir sind Gäste hier und müssen uns auch so verhalten“, sagt Fabian. „Wir wollen uns hier integrieren“, betont er. Integrieren, dieses Wort verwendet Fabian häufig.
AWO-Kritik: Missstände dürfen nicht ethnisch zugeschrieben werden
Es gebe eben in jedem Land solche und solche – Menschen, die hart für ein besseres Leben arbeiten, aber auch Eltern, die ihre Kinder zum Klauen oder zum Anschaffen schicken. „Die ethnische Zuschreibung für Missstände in der Nordstadt ist das Problem“, kritisiert Ricarda Erdmann.
„Wir dürfen ja auch nicht jeden Deutschen aus der Nordstadt zum Maßstab für alle Deutschen nehmen“, warnt sie vor Pauschalisierungen. Problemhäuser und Neuzuwanderung gibt es, seit es die Nordstadt gibt. „Und Armut führt zu Verwahrlosung“, verdeutlicht die AWO-Mitarbeiterin.
Roma-Kulturfestival „Djelem Djelem” findet vom 18. bis 21. September 2014 in der Nordstadt statt
Doch die Neuzuwanderer in der Nordstadt seien eben sehr unterschiedlich. Das hätten die vielfältigen Kontakte gezeigt. „Seit dem 1. April haben wir 560 Menschen erreicht“, zieht sie eine Zwischenbilanz.
Daher will die AWO auch positive Akzente setzen und die Vielfalt der Roma-Kultur präsentieren. Das erste Roma-Kulturfestival „Djelem Djelem” findet vom 18. bis 21. September 2014 in Dortmund statt.
Unter der Schirmherrschaft der Ministerpräsidentin des Landes NRW Hannelore Kraft möchten die Veranstalter AWO-Unterbezirk Dortmund, das Theater im Depot, das Kulturdezernat sowie Terno Drom/ MIGoVITA unter Beteiligung der Auslandsgesellschaft NRW, des Quartierbüros Nordstadt und des Planerladens an unterschiedlichen Orten in der Nordstadt Einwanderer-Kultur(en) sichtbar werden lassen und die Willkommenskultur in der Nordstadt und in Dortmund insgesamt fördern.
Noch viel Arbeit an der Willkommenskultur nötig
„Denn von einer positiven Willkommenskultur sind wir noch weit entfernt“, bedauert Erdmann. Vielleicht können das Festival oder mehr positive Beispiele wie das der Familie Lazar-Ion ja ein Umdenken bewirken.
Ihren gerade drei Monate alten Sohn hat die Familie Lazar-Ion übrigens Mirza genannt – als Dankeschön für die Hilfe von AWO-Streetworker Mirza Demirović. Na dann: Willkommen in Dortmund.
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Reader Comments
Dorothea Moesch
Lieber Herr Lazar-Ion,
erst noch einmal: Herzlich willkommen in Dortmund!
Sie sagen, Sie seien „Gäste“ hier in Deutschland. Das sehe ich anders. Sie sind Europäer, auch als Personen Mitglieder der Europäischen Union und haben ein Recht auf Freizügigkeit.
Sie können wohnen und arbeiten, wo Sie das entscheiden. Dann sind Sie Einwohner mit allen Rechten und Pflichten – ganz legitime Einwohner – keine „Gäste“, die sich irgendwie besonders oder unsichtbar benehmen müssten.
Leben Sie Ihre Träume, erziehen Sie Ihre Kinder, arbeiten Sie – leben Sie einfach frei und normal. Sie müssen sich nicht wegducken, weil Sie hierher gezogen sind. Das sind viele – das ganze Ruhrgebiet besteht im Grunde aus Zugezogenen 🙂
Herzlichen Gruß aus noch einem Nordviertel!
esther
Liebe Dorothea,
Danke für die lieben Worte und einen ganz großen Dank den Nordstadtbloggern für den reflektierten und vielseitigen Bericht. Es tut richtig gut das zu lesen. Eeeendlich ein Ausgleich zu all der polemischen Scheiße von anderer Seite zu den Themen Zuzug, Migration und Roma. Bitte, Bitte, ganz laaange weiter so gut bleiben!
Liebste Grüße
Esther