Es ist nun offiziell: Dortmund ist „Sicherer Hafen“ für gestrandete Flüchtlinge. Mit einer Mehrheit der Fraktionen von SPD, Grünen und Linke/Piraten hat der Stadtrat sich mit der Initiative Seebrücke solidarisch und im Namen der Stadt bereit erklärt, zusätzlich geflüchtete Menschen, die im Mittelmeer in Seenot geraten sind und gerettet werden konnten, aufzunehmen. Gegen die Stimmen von FDP/Bürgerliste, CDU, AfD und Neonazis.
Widerstand gegen ein kollektives Unterlassungsdelikt: der Tod als Folge des Wegschauens
Die BefürworterInnen des betreffenden Resolutionsentwurfs waren zugleich jene Fraktionen, die ihn auch in die 39. Sitzung des Rats eingebracht hatten. Ihre Begründung für die Antragsinitiative: obwohl (1) das Medienecho gering ist – sterben (2) im Mittelmeer weiterhin Menschen.
Denn (1): Wer schaut schon gerne hin, um ganz nah vor Augen geführt zu bekommen, dass hier gleichsam ein fortgesetztes, kollektives Unterlassungsdelikt begangen wird. Eine verwerfliche Handlung, deren gesellschaftliche Tatausführung im Nichttun des moralisch Gebotenen besteht – nämlich verzweifelte Menschen vor dem Tod durch Ertrinken zu retten.
Waren es (2) im letzten Jahr über 2.200 Opfer, sind es in diesem Jahr bereits 500. Und der Sommer steht vor der Tür, d.h. ihre Zahl wird in die Höhe schnellen. „Das ist kein unvermeidliches Unglück, sondern Ergebnis von Abschottung und Sterben lassen“, erklärt Ulrich Langhorst in seiner Stellungnahme für Bündnis90/Die Grünen.
Europa und seine liebgewonnenen Menschenrechte: vor der eigenen Haustür sind sie wirkungslos
Fatma Karacakurtoglu (Linke/Piraten) weist zudem darauf hin, dass es sich bei den genannten Zahlen nur um dokumentierte Fälle handele; mittlerweile seien an den europäischen Grenzen 30.000 Menschen gestorben.
Es müsse so drastisch gesagt werden, „weil es so drastisch ist“, legt der Grünen-Fraktionssprecher nach. Sein Kollege von den Linken/Piraten, Utz Kowalewski, findet für das, was vor Europas Küsten täglich passiert, klare Worte: „eine Schande“. Über die EU-Politik würde eine ganze Population Weißer Haie im Mittelmeer angefüttert. Es sei ein unglaublicher Zustand, wenn dann auch noch HelferInnen kriminalisiert würden.
Ulrich Langhorst ergänzt: Die Kriminalisierung der Seenotrettung, dies sei nur die Spitze des Eisbergs einer inhumanen Politik. Und – wohl mit Blick auf den heuchlerischen Umgang mit Menschenrechten in Europa – fasst Utz Kowalewski zusammen: „Da verliert die EU ihre Seele“.
Reichtum auf Kosten des Südens – dann der empörte Aufschrei, wenn die Opfer zu uns wollen
Die Unterstützung der SPD kommt aus einer etwas anderen Perspektive – vom Vorsitzenden des Integrationsrats: „Wir beuten Afrika aus. Wir generieren unseren Wohlstand, unter denen die Afrikaner leiden“, so Michael Taranczewski. Es ginge nicht darum, massenhaft Leute aufzunehmen, sondern Todgeweihte, weist er auf das offenbar beschränkte Vorstellungsvermögen durchschnittlicher MitteleuropäerInnen zur motivationalen Situation Flüchtender hin.
Es handele sich um den Versuch einer Isolierung Europas, darum – Wohlstand zu schützen; zugleich würden aber Waffen exportiert. „Ihr solltet Euch alle zurückhalten und darüber nachdenken, wo wir verantwortlich sind“, drückt der Sozialdemokrat seinen Unmut aus – und fügt, deutlich vernehmbar, unter anderem hinzu: „Ich kann es nicht mehr hören!“
Damit waren besonders zwischenzeitliche Redebeiträge der AfD und der Neonazis angesprochen. Letztere bemühten bezeichnenderweise einen Vergleich des faschistischen „Atlantikwalls“ mit dem von rechter Seite geforderten Ausbau Europas zur Festung.
Auch Svenja Noltemeyer, Bündnis90/Die Grünen verwahrt sich, empfindet die Diskussion als kaum fassbar. Es fallen Redewendungen wie „humanitärer Wahnsinn“, „unsäglicher Zustand“ oder „Hinhaltetaktik als falscher Weg“. – Doch am Ende überwiegt Erleichterung: wissend („freue mich“), dass die eingebrachte Resolution mehrheitlich verabschiedet werden wird.
CDU: Solidarität mit den Menschen ist nicht gleich Solidarität mit einer Kampagne
Ernstzunehmende Kritik am Inhalt des zur Beschlussfassung vorgelegten Antrages kommt aus zwei Lagern unter den RatsvertreterInnen. Für die CDU-Fraktion betont Ulrich Monegel: die Stadt könne stolz sein, was „auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise“ an Debatten abgeliefert worden sei: wie viele Menschen, die Verwaltung, Kirche, Wohlfahrtsverbände, Akteure der Zivilgesellschaft und Politik die Ärmel hochgekrempelt und etwas getan hätten.
Dortmund sei da – nur hinter Gladbeck: bei der Aufnahme von Flüchtlingen und Übererfüllung von Quoten – ganz vorne mit dabei. „Wir haben hier überhaupt keinen Nachholbedarf“, so der CDU-Fraktionssprecher quasi schlussfolgernd. Die fehlende Solidarität in der EU sei aber das eine, verbrecherische Schleuserstrukturen etwas anderes.
Ebenso gilt für ihn: „Solidarität mit den Menschen ist das eine, Solidarität mit einer Kampagne ist was anderes.“ Zudem: Städte, die sich bisher solidarisiert hätten – da sei kein einziger Flüchtling aufgenommen worden. „Wir werden daher nicht beitreten“, erklärt der Christdemokrat.
FDP: Kriterien für Grenzdurchlässigkeit durch europäisches Einwanderungsgesetz regeln
Auch Lars Rettstadt (FDP/Bürgerliste) qualifiziert die Einstellung der EU-Mission als „eine Schande“ und fordert, dass die vielen HelferInnen von Flüchtlingen in ihrer Arbeit nicht behindert werden dürfen. Bekennt sich ausdrücklich zu ihren Leistungen und denen der Kommune, als Dortmund 2015 zur Drehscheibe für viele der in der Bundesrepublik Ankommenden wurde.
Doch es sei ein Problem, alle einzuladen; vielmehr müsse das Problem über die EU-Außengrenzen gelöst werden. Dafür allerdings bedürfe es eines vernünftigen europäischen Einwanderungsrechts. Denn es würden nicht alle Menschen zwingend mitgenommen: über 1.000 gäbe es in der Stadt ohne Bleibeperspektive.
Und es müssten die entstehenden Millionen-Kosten berücksichtigt werden. Ratsmitglieder, die den Antrag befürworteten, sollten dann auch dazu beitragen, das Geld dafür auf den Tisch zu legen. Sie sollen sich nach dem Willen der FDP offenbar individuell an den besonderen Folgekosten ihres Abstimmungsverhaltens beteiligen.
Vorwurf: Rechnung zum eigenen Vorteil – oder: was ein Menschenleben wert ist
Müssen demnach gewählte RepräsentantInnen der Bürgerschaft zukünftig vielleicht mit ihrem persönlichen Vermögen für politische Entscheidungen haften? – Obwohl demokratietheoretisch absurd, ein – weitergesponnen – nicht ganz uninteressanter Gedanke. Dann, wenn es um Beschlüsse zu Sonderausgaben jenseits der Flüchtlingsproblematik geht, etwa im Bereich der Wirtschaftsförderung.
Auch Fatma Karacakurtoglu wundert sich scheinbar nicht mehr wirklich: so, wie sie erzogen worden sei und dachte: in einer Gesellschaft zu leben, die auf Werten wie Menschlichkeit und Nächstenliebe höre – da kommt ihr scheinbar die Debatte im Ratssaal teils ganz anders vor.
So erinnert sie Lars Rettstadt daran, dass er als Arzt dem hippokratischen Eid verpflichtet sei – was bei dem aber nur ein Abwinken erzeugt: schließlich glauben einige Ärzte immer noch, dass mit dem weißen Kittel Definitionsmacht über ihre Disziplin und deren Handlungsnormen vererbt wird. – Der rechne als Arzt, so die Politikerin der Linken, aber nun vor, was ein Menschenleben wert sein solle.
Kommentar
Für Menschenrechte, gern: solange die Kasse klingelt
Von Thomas Engel
Worauf die Abgeordnete der Linken anspielt: Die Umsetzung des von der FDP und anderen geforderten Einwanderungsgesetzes liefe im Prinzip darauf hinaus, hochqualifizierte Arbeitskräfte zum Wohle Europas auf den Kontinent zu holen und den Rest vor den Küsten weiterhin absaufen zu lassen.
Diese faktische Segregation potentieller ImmigrantInnen in solche, die zum eigenen Vorteil nach europäischen Regeln willkommen sind, und in jene Unerwünschten, die vor Armut und Krieg flüchten, hat jedes humanistische Motiv verloren. Weil damit die Wahrung von Menschenrechten nur noch Eliten in Aussicht gestellt wird.
Sicher, viele reiche Nationen mit einem Einwanderungsgesetz oder analogen Bestimmungen handeln bereits so: Kanada, Australien usf. Dennoch: ein Unrecht rechtfertigt kein zweites. Oder wollte der Mörder das Gericht ernsthaft zum Freispruch auffordern, weil der Nachbar auch mordet? – Das funktioniert nur in der Welt ökonomischer, daher politischer Übermacht. Sie setzt ihr eigenes Recht, demgegenüber die vielen Deklarationen, es beträfe alle gleich, nur hohl klingen.
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Die „Seebrücke-Proteststaffel“ gegen das Sterben im Mittelmeer macht am Samstag Station in Dortmund
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Seebrücke Dortmund (Pressemitteilung)
Erklärung von Seebrücke Dortmund zum Ratsbeschluss
Die Seebrücke Dortmund freut sich, dass der Rat der Stadt ein deutliches Zeichen für die Seenotrettung und gegen das Sterben im Mittelmeer gesetzt hat.
Die Lage im Mittelmeer ist dramatisch. Fast täglich ertrinken Menschen, die versuchen über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen. Derweil werden private Seenotretter*innen daran gehindert, mit ihren Schiffen auszulaufen und Menschen zu retten. Der massenhafte Tod ist kein Unfall. Er ist politisch gemacht. Die Abschottungspolitik der EU tötet.
In dieser Situation haben die Fraktionen von SPD, Bündnis90/die Grünen und Die Linke & Piraten auf Initiative der Seebrücke Dortmund am 23.5.19 beschlossen, Dortmund zum Sicheren Hafen zu erklären.
Die Stadt erklärt sich damit bereit:
zusätzlich Menschen aufzunehmen, die im Mittelmeer aus Seenot gerettet worden sind,
sich dafür einzusetzen, dass die Kriminalisierung der Seenotretter*innen beendet wird,
an die Landes- und Bundesregierung zu appellieren sich für die Bekämpfung von Fluchtursachen, für sichere Fluchtwege und für eine humane europäische Flüchtlingspolitik einzusetzen,
den Bundesinnenminister aufzufordern die zahlreichen Angebote der Kommunen für direkte Hilfen endlich anzunehmen.
Hagen Dorgathen von der Seebrücke Dortmund sagt: „Damit ist noch kein Mensch vor dem Tod gerettet, aber es ist ein klares Zeichen, das auch Dortmund die todbringende Abschottungspolitik nicht hinnehmen will. Das Sterben auf den Fluchtwegen nach Europa muss aufhören!“
Die Seebrücke Dortmund erwartet, dass der Druck auf die Bundesregierung wächst, sich für eine humane, europäische Asylpolitik einzusetzen
„Viele Menschen in Europa wünschen sich eine Politik, für die man sich als Europäer nicht schämen muss, das hören wir in vielen Gesprächen mit Menschen in Dortmund“, erklärt Anja Sportelli von der Seebrücke Dortmund.
Dortmund ist die erste Großstadt im Ruhrgebiet, die sich auf Initiative der Bewegung Seebrücke zum sicheren Hafen erklärt.
Bündnis 90/Die Grünen (Pressemitteilung)
Sicherer Hafen Dortmund für geflüchtete Kinder in Griechenland – GRÜNE wollen Ratsbeschluss umsetzen
Die Dortmunder GRÜNEN fordern, dass die Stadt einen Beschluss des Rates umsetzt und sich für die schnelle Aufnahme geflüchteter Kinder einsetzt, die momentan vor allem in Griechenland unter katastrophalen Umständen in Lagern festsitzen. Der Rat hatte im Sommer auf der Grundlage eines Antrags der Initiative SEEBRÜCKE Dortmund zum Sicheren Hafen erklärt. Damit hatte sich die Stadt bereit erklärt, zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen.
„Es ist an der Zeit, diesen Beschluss nun umzusetzen. Aktuell sitzen auf den griechischen Inseln mehr als 40.000 Flüchtlinge in menschenunwürdigen, überfüllten Lagern fest – unter ihnen auch etwa 4000 Kinder ohne Eltern. Es ist eine Schande für die Friedensnobelpreisträgerin Europäische Union, dass es nicht gelingt, eine schnelle Lösung für die Aufnahme dieser Menschen in den EU-Mitgliedsstaaten zu finden. Wir sind der Auffassung, dass man dem Leid nicht tatenlos zusehen darf, bis eine gesamteuropäische Lösung gefunden wurde und schließen uns dem bundesweit diskutierten Vorschlag an, zusätzlich Flüchtlinge und insbesondere Kinder aus Griechenland in Deutschland aufzunehmen. Dortmund sollte sich dabei gemeinsam mit anderen Städten, die sich zum Sicheren Hafen erklärt haben, an die Spitze der Bewegung stellen“, fordern die Sprecher*innen des GRÜNEN Kreisverbandes, Katja Bender und Julian Jansen.
Rechtlich kann letztendlich nur die Bundesregierung über eine zusätzliche Aufnahme von Flüchtlingen entscheiden. Städte können sich dazu aber klar positionieren und ihre Aufnahmebereitschaft signalisieren, um damit Druck für eine solche Entscheidung auf der Bundesebene zu machen. Gleichzeitig ist es für die GRÜNEN wichtig, dass parallel dazu Verhandlungen innerhalb der EU stattfinden, um eine gesamteuropäische Lösung zu finden.
„Es ist an der Zeit, auf allen Ebenen zu handeln, um das Leid insbesondere in den griechischen Flüchtlingslagern zu lindern. Das können wir als Sicherer Hafen Dortmund nicht einfach nach oben abschieben und mitten im Winter auf langfristige Lösungen warten. Die Stadt sollte deshalb schnellstens erneut die Breitschaft signalisieren, zusätzlich akut lebensbedrohte Flüchtlinge aufzunehmen. Dortmund hat den vergangenen Jahren gezeigt, wie Solidarität bei der Aufnahme von Geflüchteten geht. Viele Bürgerinnen und Bürger waren und sind aktiv in der ehrenamtlichen Hilfe und ihrer Unterstützung. Bei einem bundesweiten Sofortprogramm sind wir sicher, dass auch die Aufnahme einiger zusätzlicher geflüchteter Kinder für die Stadt kein Problem ist. Für Dortmund wäre das nicht die Welt, für die betroffenen Kinder aber eine überlebenswichtige neue Chance“, so Katja Bender und Julian Jansen.
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