Zum x-ten Mal: Wohnungslose in Dortmund brauchen Hilfe – Diakonie: „Wenn es kalt wird, zeigen Sie Herz!“ – Ist das so?

Kein Mangel an freien Plätzen bei der Dortmunder Tafel an Heiligabend.
Wenig freie Plätze für Wohnungslose am Heiligen Abend 2018 in Dortmund: es gibt Handlungsbedarf.

Mit der Kampagne „Wenn es kalt wird, zeigen Sie Herz!“ macht die Diakonie Dortmund/Lünen auch in diesem Jahr auf die Situation all jener aufmerksam, die keine eigene Wohnung haben, gerade jetzt im Winter. Deren Zahl steigt – trotz stetig wachsender Wirtschaft und Erfolge der Wohlfahrtsverbände. Bürgerschaftliches Engagement tut mehr Not denn je.

Vom Allgemeinen Menschenrecht auf Wohnen – bis zur bitteren Realität in einer Stadt wie Dortmund

Deklariert vor 70 Jahren, geltend, geschunden: die Allgemeinen Menschenrechte. Fotos: Thomas Engel
Deklariert vor 70 Jahren, geltend, geschunden: die Allgemeinen Menschenrechte.

Ist ein Dach über dem Kopf ein Menschenrecht? – Die Antwort ist simpel: Ja! In Artikel 25 der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte, verabschiedet von den Vereinten Nationen im Dezember 1948, heißt es in Absatz 1 unmissverständlich:

„Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.“

Dass dieses Recht auch inmitten eines reichen Landes wie der Bundesrepublik Deutschland alles andere als verwirklicht ist, dass in einer einerseits prosperierenden Stadt wie Dortmund, andererseits viele Menschen wohnungs- und/oder obdachlos sind, Tendenz steigend – darauf verweist mit Nachdruck die Diakonie vor Ort. Und mahnt Solidarität an, gerade jetzt: im Winter.

Immer mehr Menschen in Dortmund und Umgebung sind obdach- oder wohnungslos

Die Betroffenen haben entweder gar kein Dach über dem Kopf, sind „obdachlos“ und schlafen bei Wind und Wetter draußen, oder tingeln ohne eigene, feste Wohnung zwischen Behelfsunterkünften bei Bekannten und kommunalen Notschlafstellen hin und her; dann gelten sie im engeren Sinne als „wohnungslos“.

„Wohnungslos in Dortmund“, „Wohnungslosenhilfe“: eines ihrer Lieblingsthemen, so die Diakonie-Geschäftsführerin für Dortmund/Lünen, Anne Rabenschlag, nicht ohne nachvollziehbare Ironie beim Pressegespräch – liebend gern verzichtete die soziale Einrichtung der Evangelischen Kirche natürlich auf solche Spezialitäten. Doch sie kommt leider nicht umhin, die Zahlen sprechen für sich.

Das grobe Faktum ist leicht zusammengefasst: Der Anteil jener Menschen in der Kommune, „die wohnungslos sind, Hilfe und Unterstützung brauchen“, wachse. Anne Rabenschlag weiß, wovon sie spricht.

Während die Wirtschaft bundesweit boomt, werden bezeichnenderweise die Armen immer ärmer

Denn die Diakonie Dortmund/Lünen ist in ihrem Einzugsbereich gleich an mehreren Stellen engagiert: etwa mit der Frauenübernachtungsstelle, dem Brückentreff, Bodelschwingh- und Ludwig-Steil-Haus – und nicht zuletzt durch die Zentrale Beratungsstelle für wohnungslose Menschen (ZBS) in der Rolandstraße.

Engagiert: Anne Rabenschlag und Thomas Bohne.
Engagiert, Diakonie Dortmund/Lünen: Anne Rabenschlag und Thomas Bohne.

Wurden in den ersten elf Monaten im Jahr 2016 mit 1.594 Personen schon 100 mehr gegenüber dem Vorjahr betreut, sind es in diesem Jahr bereits über 2.000 Menschen, die bei der ZBS der Dortmunder Diakonie als Einzelfälle registriert sind. Das ist keine einmalige Tendenz: waren nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. im Jahr 2016 bundesweit etwa 860.000 Menschen wohnungslos, dürfte ihre Zahl 2018 1,2 Millionen überschreiten.

In einem Land, in dem seit Jahren die Wirtschaft nach ihren Kennwerten und laut ExpertInnen boomt. Dies bedeutet nichts anderes, als dass mit dem fetischisierten Wirtschaftswachstum zugleich die Armen immer ärmer werden.

Das ist freilich kein Zufall, sondern folgt einer systemisch bedingten Konkurrenzlogik und ihrer moralphilosophischen Prämissen, wonach letztendlich Wettbewerbssieger belohnt, Verlierer implizit abgestraft werden.

Städte wie Dortmund: überdurchschnittlicher Anstieg bei der Zahl an registrierten Wohnungslosen

Ob es vor diesem Hintergrund zureicht, an das warme Herz zu appellieren, sondern vielmehr ein politischer Wille einzufordern wäre, der die wirksame Umverteilung des gesamtgesellschaftlich produzierten Reichtums nicht nur auf der Agenda hat, sondern jenseits wohlfeiler Worte für „Gerechtigkeit“ diese konkret, beispielsweise durch eine radikale, bei den Wurzeln ansetzende Reform des Steuer- und Bildungssystems auch umsetzt – sei dahingestellt.

Fakt ist: die Menschen frieren auf Dortmunds Straßen, jetzt. Da sei es gut, „wenn viele gute Menschen ein Herz für wohnungslose Menschen zeigen“, so die Dortmunder Diakonie-Chefin.

Die Dringlichkeit dessen veranschaulicht Thomas Bohne, Leiter der ZBS, mit Fallzahlen, die in den letzten Jahren stark gestiegen seien. Die Zunahme auf bislang 2.030 (= 10 Prozent mehr) Beratungsfälle, die in diesem Jahr Hilfe gesucht hätten: das seien in Dortmund wie in anderen Städten gegenüber dem bundesweiten Wachstumstrend noch einmal überdurchschnittliche Zahlen.

71 Prozent mehr Wohnungslose seit 2010: auch, weil passende Angebote auf dem Wohnungsmarkt fehlen

Armut in Dortmund
Wohnungsloser: Quartier an der Katharinentreppe. Foto: Klaus Hartmann

Das sei seit 2010 eine Steigerung von 71 Prozent oder 850 mehr Menschen, „mit den Schicksalen, die da dranhängen“, stellt Thomas Bohne fest. Das zeige auch „etwas in der gesellschaftlichen Entwicklung, nämlich das Armut zunimmt, das Wohnungsnot zunimmt“.

Täglich erlebe man in der Beratungsstelle, dass es für Menschen „ganz schwer“ sei, bezahlbaren Wohnraum oder vom Jobcenter anerkannte Wohnungen zu finden, so der Experte von der Diakonie in Sachen Wohnungslosigkeit. Hier gäbe es auf dem Wohnungsmarkt schlicht viel zu wenig Angebote.

Nichts Neues, das weiß auch er selbstverständlich: darüber habe man schon länger gesprochen. Aber: „dies trifft eben in der Kette die Wohnungslosen besonders, weil die dann auf dem Wohnungsmarkt überhaupt keine Chance mehr haben.“

Teufelskreise der Armut: einmal drin, wird es schwierig jemals wieder herauszukommen

Die Liste lässt sich nach den Angaben von Thomas Bohne auf verschiedenen Ebenen mühelos fortführen. Ein Problem: Überschuldung. 14,4 Prozent der Haushalte seien in Dortmund davon betroffen, gegenüber 10 Prozent im Bundesschnitt. – Sicher, die besonders Klugen könnten auf Eigenverantwortlichkeit verweisen: selber schuld, wer der Werbeindustrie auf den Leim geht und das eigene Budget den Verlockungen nicht gegenrechnet.

Unabhängig von solchen Plattitüden: es gibt viele Menschen, die stecken schlicht in der Falle, finden allein nicht mehr heraus – aus welchen Gründen auch immer, und davon gibt es genug. Fakt ist: die Betroffenen sind (sehr) arm und bleiben es in den meisten Fällen. Die Konsequenzen dessen für die Gesundheit, unter anderem: von einer Zunahme psychiatrischer Krankheitsbilder unter Wohnungslosen bis zur gestiegenen Zahl von chronischen Sucht- und Mehrfachabhängigkeitserkrankungen.

Es folgen weitere Teufelskreise: aus der oft resultierenden Unfähigkeit, rechtzeitig etwa Hartz IV zu beantragen, beispielsweise Stromabsperrungen – „ein Einstieg in die spätere Wohnungslosigkeit“, so Thomas Bohne. Und, wenig verwunderlich: Zwangsräumungen nähmen zu. Der kaum abwendbare Negativ-Eintrag in das Schufa-Register versperrt dann wiederum den Zugang zu Immobilien von Wohnungsbaugesellschaften, sofern sie überhaupt bezahlbar sind.

Hilfen der Diakonie zeitigen spürbare Erfolge, reichen aber offenkundig bei weitem nicht aus

Obdachlosigkeit ist in Dortmund allgegenwärtig - so wie hier auf dem Steinplatz. Foto: Alex Völkel
Obdachlosigkeit ist in Dortmund allgegenwärtig – so wie hier auf dem Steinplatz. Foto: Alex Völkel

Resultat: es frieren Menschen auf der Straße oder tingeln von Notunterkunft zu Notunterkunft. In den Wintermonaten spitzt sich die Lage derer, die auf der Straße leben, noch einmal dramatisch zu. Ungefähr 44 weibliche Wohnungslose übernachten in diesen Tagen in der für 24 Personen ausgelegten Frauenübernachtungsstelle der Diakonie, sagt Thomas Bohne; die Öffnungszeiten des Tagesaufenthalts „Brückentreff“ seien am Wochenende bis 22 Uhr verlängert worden, teilt die Diakonie mit.

Hinzukommt: die Erfolge der ZBS – für sich genommen, sicherlich Anlass frohen Mutes – offenbaren auch zugleich das Ausmaß wachsenden Elends. Denn zunächst zeigen die relativen Häufigkeiten, dass die Hilfe der Diakone wirkt: im prozentualen Vergleich der Anzahl von Personen bei Eintritt in deren Hilfen im Verhältnis zur Situation beim Abschluss der Hilfen ergibt sich beispielsweise für (vorher/nachher):

Eigene Wohnung: 9 vs. 28 Prozent; lebten und übernachteten auf der Straße: 11 vs. 2 Prozent; 50 vs. 91 Prozent haben ein Einkommen (Lohn, Sozialhilfe, Hartz IV, Rente etc.). Aber, wenn die Hilfe – sicherlich nicht erst seit gestern – so erfolgreich ist: weshalb steigen die Zahlen der Hilfesuchenden dennoch robust weiter an?

„Wenn es kalt wird, zeigen Sie Herz“ – auch ein Aufruf für bürgerschaftliches Engagement

Es liegt auf der Hand: weil sich das Elend schneller vergrößert, als eine Wohlfahrtsinstitution wie die Diakonie und andere es auffangen können.

Die vom Diakonischen Werk dieser Tage verteilten Infokarten mit dem Motto „Wenn es kalt wird, zeigen Sie Herz“ enthalten alle wichtigen Kontaktdaten für trägerübergreifende Hilfsangebote in Dortmund. Von der Suppenküche über medizinische Hilfen bis zu Übernachtungsmöglichkeiten.

Damit soll nicht nur symbolisch auf die Gefahren für wohnungslose Menschen im Winter aufmerksam gemacht, sondern BürgerInnen ebenfalls motiviert werden, sich für die Menschen in Gefahr zu engagieren.

 

Weitere Informationen:

  • Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb): „Ein Recht auf (menschenwürdiges) Wohnen?“, hier:
  • Dossier bpb, Geschichte der Obdachlosigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, hier:
  • Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zur Entwicklung der Wohnungslosigkeit, hier:

Mehr zum Thema bei nordstadtblogger.de:

(Vorbemerkung: Die hier aufgeführten Links zum Thema beziehen sich – bis auf den letzten – allesamt und lediglich auf Veröffentlichungen in diesem Blog seit dem 13. Oktober 2018 und stellen zudem nur eine Auswahl dar.)

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