700 Menschen bei der „Seebrücke“-Demo in Dortmund – Klare Botschaft: „Seenotrettung ist kein Verbrechen!“

Rund 700 Menschen setzten in der Dortmunder City ein bewegendes Zeichen für Seenotrettung. Fotos: Alex Völkel
Rund 700 Menschen setzten in der Dortmunder City ein bewegendes Zeichen für Seenotrettung. Fotos: Alex Völkel

#refugeeswelcome:  Rund 700 Menschen sind am Samstag im Rahmen der Aktion „#Seebrücke – Schafft sichere Häfen!“ in #Dortmund auf die Straße gegangen. Sie forderten am ausgerufenen „Day orange“ von der europäischen Politik, das Ertrinken im Mittelmeer zu stoppen und #Seenotrettung zu ermöglichen.

 „Menschen auf dem Mittelmeer sterben zu lassen, ist unerträglich und spricht gegen jegliche Humanität.“

Der „Day Orange“ am 4. August erinnert an den Jahrestag der Festsetzung des Rettungsschiffs Juventa in Italien. „Menschen auf dem Mittelmeer sterben zu lassen, um die Abschottung Europas weiter voranzubringen und politische Machtkämpfe auszutragen, ist unerträglich und spricht gegen jegliche Humanität. Migration ist und war schon immer Teil unserer Gesellschaft“, betonte Anja Sportelli, Initiatorin der Dortmunder Aktion.

„Statt, dass die Grenzen dicht gemacht werden, brauchen wir ein offenes Europa, solidarische Städte und sichere Häfen“ heißt es im Aufruf der „Seebrücke“. 

Die „Seebrücke“ ist eine internationale Bewegung, getragen von verschiedenen Bündnissen und  AkteurInnen der Zivilgesellschaft. Sie solidarisieren sich mit allen Menschen auf der Flucht und fordern von der deutschen und europäischen Politik sichere Fluchtwege, eine Entkriminalisierung der Seenotrettung und eine menschenwürdige Aufnahme der Menschen, die fliehen mussten oder noch auf der Flucht sind. 

Die Demonstration startete vor den Bürgerdiensten in der Kleppingstraße, führte durch die City und endete im Stadtgarten. Hier gab es mehrere Redebeiträge, die wir hier teilweise am Ende im Wortlaut dokumentieren. 

TeilnehmerInnen zündeten orange Kerzen zur Erinnerung an die Ertrunkenen an

Zum Abschluss zündeten die TeilnehmerInnen 629 orangene Schwimmkerzen an und setzen sie in das Wasser des Gaukler-Brunnens. Dies verstanden sie als Zeichen und zum Andenken an 629 Menschen, die allein im Monat Juni 2018 im Mittelmeer ertrunkenen sind. 

Karin Assion von „Train of Hope“ machte auf die menschenverachtende Sicherheit aufmerksam, mit denen Schleuser die Geflüchteten in Sicherheit wiegen. Sie verteilten an die zumeist Nicht-SchwimmerInnen aus Afrika Schwimmwesten-Imitate, die den Geflüchteten Sicherheit vorgaukeln sollen, damit diese in die schrottreifen Boote gingen.

Doch im Fall der Fälle – das Sinken der Schiffe ist eher die Regel als die Ausnahme – bieten sie jedoch keinen Schutz.

Dies ist auch einer der Gründe, warum im Juni 2018 so viele Menschen wie niemals zuvor im Mittelmeer ertrunken sind.

Ein weiterer Grund sei, dass europäische Regierungen private Seenotrettungsboote blockierten und die Rettungskräfte obendrein kriminalisierten, anstatt Lösungen für eine gerechte und humane Flüchtlingspolitik zu finden, betonen die FlüchtlingshelferInnen. „Wir können nicht länger tatenlos zusehen“, machten sie beim Aktionstag in Dortmund unmissverständlich deutlich.


Klartext sprach auch Paul Gerhard Stamm, Sprecher der Ehrenamtlichen in der Dortmunder Flüchtlingshilfe beim Aktionstag der Seebrücke. Hier gibt es die Rede im Wortlaut:

Der frühere Superintendent Paul-Gerhard Stamm ist Sprecher der Ehrenamtlichen in der Dortmunder Flüchtlingshilfe.
Paul-Gerhard Stamm ist Sprecher der Ehrenamtlichen in der Dortmunder Flüchtlingshilfe.

Liebe Engagierte, liebe Zugewanderte,

viele von uns sind in der Geflüchtetenhilfe in Dortmund engagiert. Ich vertrete das Netzwerk der Ehrenamtlichen in der Geflüchtetenhilfe Dortmund, ein Zusammenschluss der Vereine und Initiativen in Dortmund. 

Uns alle verbindet die Begleitung und Unterstützung von Geflüchteten hier unter uns. Uns verbindet auch, dass wir zunehmend empört und wütend sind über das, was in unserem Land und in Europa passiert. 

Heute verbindet uns auch die Trauer um die ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer. 2018 haben bisher mehr als 45.000 Menschen versucht, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Allein im Juni sind 629 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken. 

Scheinbar bewegt ihr Tod keinen Menschen mehr. Uns bewegt er doch.  Wir trauern – denn jeder Mensch, der im Mittelmeer ertrinkt, weil die Rettung nicht mehr erwünscht ist, ist ein Opfer kaltblütiger Politik und ein Schrei nach den Menschenrechten. 

Es macht uns wütend, wenn wir hören und lesen, dass Seenotretter auf dem Mittelmeer kriminalisiert werden. Seenotrettungsschiffe in Häfen festgesetzt werden. Seenotrettungsschiffe mit geretteten Flüchtlingen dürfen Häfen nicht anlaufen. Kapitäne werden angeklagt. Kann es denn wirklich wahr sein, dass man sehenden Auges Menschen ertrinken lässt?

Haben wir alle Humanität hinter uns gelassen? Ist Das das sogenannte christliche Abendland. Dann gute Nacht, Abendland. Ja, es ist noch viel schlimmer, die Sterbenden werden zur politischen Verhandlungsmasse. Sie sollen sterben, damit die andern in Afrika bleiben. Das ist zynisch, abscheulich, inhuman unchristlich – eine unglaubliche Verrohung der Politik. Und da sollen wir noch an Europa glauben?

Das internationale Seerecht verpflichtet jeden Seemann dazu, Schiffbrüchige zu retten, egal woher sie kommen. Gilt das nicht mehr? In Deutschland gibt es den Straftatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung. Gilt der nicht mehr?

Menschen auf dem Mittelmeer sterben zu lassen, um die Abschottung Europas weiter voranzubringen und politische Machtkämpfe auszutragen, ist unerträglich und spricht gegen jegliche Humanität. Das macht uns wütend.

Die Politik geht über Leichen – so etwas sagen zu müssen, ist schon ein Skandal. Weil das so ist, und in Deutschland die AFD längst mitregiert und die Flüchtlingsagenda bestimmt, gehen heute an vielen Orten Menschen auf die Straße und machen deutlich:

Wir vertreten die Menschenrechte, die allen gelten, wir stehen zum Grundgesetz, zu Humanität und Menschenwürde, die jedem, jedem Menschen zu Gute kommt. 

Und wir wissen natürlich, dass die Fluchtursachen bekämpft werden müssen. Aber doch nicht mit militärischer Hilfe.

Wir fordern stattdessen eine grundlegende Änderung der Politik mit den Staaten Afrikas. Wir, die Bewohner der Wohlstandsinsel Europa, sind nämlich die Hehler und Stehler. Wir sind das Problem. Auf Kosten und Knochen anderer haben wir uns bereichert. 

Die Bodenschätze Afrikas haben wir ausgeraubt. Westliche Agrarkonzerne kaufen ganze Landstriche auf und entwurzeln so eine jahrhundertealte Subsistenzkultur, die ihre Menschen ernährte. Landflächen, so groß wie halb Europa, sollen sich bereits im Besitz westlicher Agrarkonzerne befinden.

Die Spekulation mit Ackerboden verspricht eine hohe Rendite; Nahrung wird zur Aktie. Nestlé, Danone und Konsorten mitsamt anderen globalen Wassersaugern legen das Land trocken, indem sie einheimische Quellen aufkaufen und ausnutzen, um profitsichere Monopole aufzubauen, die in den kommenden Zeiten der Wasserknappheit zu westlichen Geldmaschinen mutieren sollen. So entziehen wir den Menschen die Lebensmöglichkeiten.

Wir sind traurig und trauern heute um die Ertrunkenen im Mittelmeer – Und wir  klagen an und  fordern:

  • sichere Fluchtwege
  • eine Unterstützung und Ausweitung von staatlicher und privater Seenotrettung
  • die Freisetzung der Seenotrettungsschiffe
  • die Entkriminalisierung der Helfer, die auf dem Mittelmeer Menschen retten.
  • faire Handelsbedingungen mit dem afrikanischen Kontinent 


Bewegend war der Wortbeitrag von Ahmad aus Syrien. Flüchtlingspate Heinz Herwig lieh ihm seine Stimme und trug den Leidensweg von Ahmad vor den rund 700 Menschen im Stadtgarten vor. Auch hier der Beitrag im Wortlaut.

Flüchtlingspate Heinz Herwig lieh Ahmad seine Stimme und trug den Leidensweg des syrischen Flüchtlings vor, dessen Bruder im Mittelmeer starb.
Flüchtlingspate Heinz Herwig lieh Ahmad seine Stimme und trug den Leidensweg des syrischen Flüchtlings vor, dessen Bruder im Mittelmeer starb.

„Ich, Ahmad, bin einer von vielen, die ihre Heimat Syrien verlassen mussten, weil man dort einfach nicht mehr leben konnte. Der Krieg hat alles zerstört, unsere Wohnung wurde bombardiert.

Mein Vater hatte keine Arbeit mehr und es wurde immer schlimmer, bis meine Familie und ich zu der Entscheidung kamen, ich muss weg, in ein Land, wo man in Frieden leben kann. 

Es klingt so einfach, es war aber das ganze Gegenteil. Dass man sich von dem Ort verabschieden muss, an dem man aufgewachsen ist, wo man seine Kindheit verbracht hat, wo man vielleicht seine erste Liebe hatte, wo man glücklich war. Meine Familie konnte es einfach nicht begreifen.  

Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich war damals 16 Jahre alt und hatte immer auf eine bessere Zeit gehofft und immer daran geglaubt. 

629 schwimmende Herzen erinnern an die 629 Menschen, die allein im Juni 2018 im Mittelmeer ertrunken sind.
629 schwimmende Herzen erinnern an die 629 Menschen, die allein im Juni 2018 im Mittelmeer ertrunken sind.

Dann stand ich schließlich vor der Entscheidung, nach Europa zu fliehen, um nach einem neuen Leben zu suchen. Die erste Station war Ägypten, aber dort gab keine Perspektive, ich durfte nicht bleiben. 

Ich wusste genau, was das für ein Risiko ist, sich auf den Weg nach Europa zu machen, obwohl ich noch so jung war. Aber ich wollte leben, wollte etwas Sinnvolles tun, wollte ein kleines bisschen die Welt verbessern. Ich wusste in dem Moment nicht, woher ich den Mut hatte, einen solchen Weg zu gehen. 

Dann aber fand ich mich in einer Schwimmweste, mit 300 Leuten auf einem viel zu kleinen Boot wieder. Unsere einzige Gemeinsamkeit waren das Leid, die Angst und das Gefühl einer großen Hilflosigkeit. 

Es hört sich vielleicht übertrieben an, aber ich kann es nicht mit Worten beschreiben. Ich kam nach 15 Tagen in Italien an und wusste nicht, was auf mich zukommen würde. Für mich sollte ein neues Leben beginnen.

Aber: Die Fragen, 

– was ist mit meiner Familie,
– was ist mit meiner Heimat,
– komme ich noch mal in meine Heimat zurück,
– was ist überhaupt mein Platz auf dieser Welt

quälten mich täglich und tun es noch immer.

Dann endlich entschied sich mein älterer Bruder, auch nach Europa zu kommen.  Das hat mich sehr erleichtert und beruhigt. Mein Bruder war immer an meiner Seite und ich würde hier, zusammen mit ihm, alles hinbekommen. 

Er hat es nicht geschafft! Er ist ertrunken und hat unsere Herzen mitgenommen. Ich kann ihn nicht vergessen. Seitdem ist meine Mutter krank vor Schmerz. Sie und mein Vater hatten gehofft, uns nach drei Jahren wieder zu sehen. 

Sie können das nicht verarbeiten und damit fertigwerden und ich kann es auch nicht! Sie stehen heute hier um das zu verhindern, was meinem Bruder und damit meiner ganzen Familie geschehen ist. Und deshalb bin auch ich hier. Danke, dass sie mir zugehört haben. “  (Ahmad) 

Reader Comments

  1. Joachim Spehl

    Nachtrag: Um das Bild zur Seebrücke Dortmund noch etwas zu vervollständigen:
    Es gab noch diesen Redebeitrag zu „Vom Mittelmeer bis zur Mergelteichstraße“

    „Hallo zusammen. Mein Name ist Joachim Spehl.
    Ich bin ehrenamtlich in der Unterstützung von Geflüchteten tätig.

    Ich möchte die Gelegenheit hier bei der Seebrücke nutzen, den Kreis „Flucht aus der Heimat, Flucht über das Mittelmeer, Flucht bis hierher“ zu schließen … und sehr kurz über die Umstände, der zum großen Teil über das Mittelmeer gekommenen Menschen sprechen, die hier in Dortmund angekommen sind.

    Ich hatte die Gelegenheit, mit einigen dieser Menschen, in meinem Fall kommen sie aus Guinea, in der Unterkunft Mergelteichstraße hier in Dortmund, Kontakt zu bekommen.
    Ein Containerdorf mit ca. 300 Plätzen, 2015 errichtet, betreut durch European Homecare.

    Der Eindruck, der sich mir dort bot, war recht jämmerlich.
    Zimmer mit bis zu 5 Betten. Kaum Privatsphäre.
    Ein Gemeinschaftsraum für alle Bewohner der Einrichtung.
    Defekte Waschmaschinen. Teilweise defekte Küchen. Defekte Duschen.
    Das Wasser steht im Nassbereich.

    Wieso leisten wir uns diesen Zustand hier, in Dortmund?
    Wieso kommt der Staat seinen Aufgaben hier nicht nach
    und überlässt Vieles dem Engagement Ehrenamtlicher.

    Es wirkt, als seien die Menschen dort vergessen.

    Es gibt dort wohl Sozialarbeiter, die sich um diese Menschen kümmern sollen.
    Aber teilweise sind diese in der Einrichtung nicht einmal bekannt.

    Wichtige Behördenbriefe landen bei diesen Menschen, die sie natürlich nicht verstehen, teilweise in einem Spind auf dem Flur.

    Teilweise haben diese Menschen traumatische Erlebnisse in ihren Ländern und auf ihrem Fluchtweg durchleben müssen.

    Du überlebst den Weg durch den afrikanischen Kontinent.
    Möglicherweise bist du über Marokko oder Libyen über das Mittelmeer geflohen.
    Du schaffst es bis nach Deutschland, wirst dort registriert und landest in einer Unterkunft, wie der in der Mergelteichstraße.

    Ich bin auch lediglich ein Teil der Zivilgesellschaft.
    Ich möchte damit sagen, jeder, der Zeit übrig hat und nicht wegsehen will, kann sich kümmern.

    Man darf in diese Unterkunft hineingehen und zu den Menschen dort Kontakt aufnehmen.

    Die Menschen dort sind in großen Teilen sich selbst überlassen.
    Kaum Initiativen finden den Weg dorthin.
    Kaum jemand, der diese Leute dort unterstützt.

    Auf die Menschen dort muss zugegangen werden.

    Jeder kann unterstützen.

    Danke.“

  2. SPD-MdEP Prof. Dr. Dietmar Köster (Pressemitteilung)

    SPD-MdEP Prof. Dr. Dietmar Köster im Austausch mit Seenotrettungsorganisationen und Regierung auf Malta: „Die zivile Seenotrettung braucht unsere Solidarität!“

    „Noch immer ist ein Großteil der Schiffe der zivilen Seenotrettungsorganisationen in den europäischen Häfen festgesetzt. Nachdem ihnen seit Juni Rettungseinsätze verwehrt wurden, werden die Bedingungen für Flüchtende, die in seeuntauglichen Schlauchbooten im Mittelmeer vor Kriegen, Verfolgung und Ausbeutung fliehen, immer unerträglicher. Während den Helfer*innen die Hände gebunden sind, ertrinken beinahe täglich Menschen auf offener See“, fasst der SPD-Europaabgeordnete Dietmar Köster die Lage der Seenotrettung auf dem Mittelmeer zusammen.

    Dietmar Köster, der sich im Innenausschuss im Europäischen Parlament mit dem Thema „Flucht und Migration“ befasst, nimmt in der kommenden Woche an einer Delegation der deutschen Organisation Sea-Watch auf Malta teil, deren Schiff Sea Watch 3 seit Juli von den maltesischen Behörden beschlagnahmt im Hafen von Valetta liegt. „Die zivile Seenotrettung braucht unsere Solidarität. Die Kriminalisierung von Aktivitäten, die fliehende Menschen vor dem Ertrinken retten, ist unerträglich und muss endlich aufhören. Dafür muss den Anliegen der Seenotretter*innen Gehör verschafft werden. In dieser Hinsicht bin ich gespannt, wie die politisch Verantwortlichen auf Malta argumentieren werden“, erklärt der Abgeordnete seine Beweggründe für die Reise.

    Die Delegation wird in den drei Tagen auf Malta unter anderem die Schiffe der deutschen Seenotrettungsorganisationen Sea-Watch, Mission Lifeline und Sea Eye besuchen. Dort werden Crewmitglieder von ihren Einsätzen berichten. Außerdem wird ein Austausch mit Geflüchteten stattfinden. „Das Sterben im Mittelmeer ist Konsequenz des jahrelangen Wegschauens der Europäischen Union. Mangels legaler Fluchtwege begeben sich die Flüchtenden, entkommen aus den Folterlagern in Libyen, auf die gefährliche Überfahrt. Sie haben das Recht auf einen Asyl-Antrag in einem EU-Mitgliedsstaat, ohne sich und ihre Angehörigen dafür in Lebensgefahr bringen zu müssen“, so Köster abschließend.

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