„2099“ im Schauspielhaus: Schmerzende Anklagen des ZPS aus der Zukunft – „Ihr seht das alles und tut nichts.“

Björn Gabriel, Christoph Jöde, Sebastian Kuschmann, Uwe Schmieder. Foto: Szekely/TheaterDo
Zeitreisende Philosophen aus dem Jahr 2099 wollen die Vergangenheit ändern. Foto: Szekely/TheaterDo

Empörung, Jubel und ein großes mediales Echo – das ist der Dreiklang der Aktionskünstlerinnen und -künstler des Zentrums für politische Schönheit (ZPS) aus Berlin. Nicht anders ist das in Dortmund, wo das ZPS am Samstag seine erste Theaterinszenierung uraufgeführt hat. „2099“ heißt das sehenswerte wie auch provokative Stück.

Aktionskunst und Provokation als Werbung für politische Forderungen

Die Drohung, das Jaguar-Baby Raja im Dortmunder Zoo zu töten, um auf das Sterben der Syrer aufmerksam zu machen, war einer der PR-Gags. Foto: Völkel
Die Androhung eines Tiermords als geplanter  PR-Gag. Foto: Völkel

Das Zentrum für politische Schönheit versteht sich als eine provokative Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit.

So auch bei ihrem ersten Theaterprojekt in Dortmund. Schauspiel-Chef Kay Voges hatte die Berliner eingeladen.

Hier zog das ZPS wieder alle Register: Von Videoaktionskunst mit einem provokativen Besuch bei den Neonazis in Dorstfeld bis hin zur Drohung, das Jaguar-Baby Raja im Dortmunder Zoo zu töten, um auf das Sterben der Syrer aufmerksam zu machen, reichte die Bandbreite der Aktivitäten.

Hinzu kam das „Geständnis“, vor einigen Wochen die beiden Äffchen aus dem Dortmunder Zoo entführt zu haben…

Das sorgt für Applaus der Antifaschisten und zu Empörungsstürmen der besorgten Gutmenschen und Tierschützer. Im eigentlichen Stück spielt das (zum Glück) quasi keine Rolle.

Zeitreise: Philosophen aus dem Jahr 2099 wollen die Menschen in 2015 warnen

Worum geht es in „2099“? Ein Zeitreise-Team von Philosophen (interessanterweise nur Männer)  aus eben dem Jahr 2099 macht sich auf in unsere Gegenwart.

Besonders eindrucksvoll als Mahner vor Hitler: Uwe Schmieder. Foto: Nick Jaussi/TheaterDo
Besonders eindrucksvoll als Mahner vor Hitler: Uwe Schmieder. Foto: Nick Jaussi/TheaterDo

Im Gepäck haben sie das Wissen um die Geschichte des 21. Jahrhunderts: Victor Adschembas „Große Katastrophen“ in Ostafrika (2029-2034), die Verbrechen des chinesischen Ultranationalisten Hao Kim Helian (ab 2082) oder das Attentat auf den „aggressiven Humanisten“ und Bundeskanzler Franz-Kevin Wegener…

Die Philosophen reisen ins Jahr 2015, ausgerechnet ins Schauspiel Dortmund: Nur hier kann das Vorhersehbare noch abgewendet werden – so hoffen und glauben sie.

Voller Wut, Leidenschaft und mit einem Funken Hoffnung wollen sie das Publikum davon überzeugen, das Rad der Geschichte zu drehen, bevor es zu spät ist. Bevor die Geschichte der Zukunft geschrieben wird – sie liegt in unseren Händen.

Die berechtigte politische Sorge um die Menschenrechte

Fast schon verzweifelt versuchen die vier zeitreisenden Philosophen aus dem Jahr 2099 – dargestellt von Björn Gabriel, Christoph Jöde, Sebastian Kuschmann und Uwe Schmieder – die Agonie der 500 Zuschauerinnen und Zuschauer zu durchbrechen und diese aufzurütteln.

Philipp Ruch ist Chefunterhändler und Regisseur des ZPS. Foto: Alex Völkel
Philipp Ruch ist „Chefunterhändler“ des ZPS. Foto: A. Völkel

Doch das Publikum im Schauspielhaus bleibt beinahe emotionslos und apathisch. Das „Mitmachtheater“ kommt nicht in Fahrt und steht damit fast schon sinnbildlich für die politische (Un-) Kultur in Deutschland.

Denn die politische Sorge um die Menschenrechte, auf denen immerhin die deutsche Verfassung beruht, wurde als eine Art Störfall an den zivilgesellschaftlichen Sektor wegdelegiert.

„Seither versagt Deutschland fortwährend darin, wahrnehmbaren Widerstand gegen exterritoriale Menschenrechtsverletzungen zu erzeugen“, hat Philipp Ruch, „Chefunterhändler“ und Regisseur des ZPS, wiederholt beklagt.

Eindringliche Warnung der Zeitreisenden: Zurückhaltung kann töten

Zu wissen was passiert, es aber nicht ändern können. Sebastian Kuschmann. Foto: Nick Jaussi/TheaterDo
Zu wissen was passiert, es aber nicht ändern können. Sebastian Kuschmann. Foto: Nick Jaussi/TheaterDo

„Aber wer, wenn nicht das Land der Holocaust-Täter, hätte eine moralische Pflicht, den Kampf gegen Genozid, Menschenrechtsverletzungen und Unrechtsregime offensiv zu führen?“

Das fragt Philipp Ruch bereits im Jahr 2014  in seiner Abhandlung „Aggressiver Humanismus – Von der Unfähigkeit der Demokratie, große Menschenrechtler hervorzubringen“.

Die Zurückhaltung und Wortlosigkeit des Publikums hätte daher besser nicht geplant sein können.

Die Zeitreisenden hielten den Zuschauerinnen und Zuschauern den Spiegel vor. Punktuell war das mehr Predigt als Theater. Allerdings machen sie mit ihrer „Predigt“ gleichzeitig wütend und hilflos.

Sie rüttelten auf, weckten Empathie und sorgten für Bestürzung. Sie machten deutlich, dass sich die Deutschen im Jahr 2015 „im Windschatten der Geschichte“ befänden – und die „Menschheit im Tiefschlaf“. Dabei seien wir Zeugen des Beginns massiver Verwerfungen.

„Die Nazis werden den Massenmord ankündigen, aber sie werden es nicht glauben“

Ein interessanter Schachzug war es, das Publikum gedanklich ins Jahr 1915 zu versetzen. Beispielhaft warnten sie, welche Katastrophen nach dem „Großen Krieg“ noch auf die Welt warteten: „Viele werden frühzeitig die Gefahr erkennen – aber nicht die epischen Ausmaße“, verdeutlichten sie wort- und bildstark den Aufstieg Hitlers.

Sebastian Kuschmann, Uwe Schmieder, Björn Gabriel und Christoph Jöde. Foto: Nick Jaussi/TheaterDo
Eine Urne mit der Asche der Toten aus der Zukunft – vielleicht auch unsere eigene? Foto: Nick Jaussi/TheaterDo

„Die Nazis werden den Massenmord ankündigen und durchführen. Und sie werden es hören, aber nicht glauben“, machten die verzweifelten Philosophen deutlich.

Besonders eindrucksvoll ist dabei Uwe Schmieder – seine Warnung und Verkörperung von Hitler sorgte für Gänsehaut.

Die Aktionskünstler machten deutlich, dass auch Mord als letztes politisches Mittel gerechtfertigt sei.

Denn was wäre, wenn jemand Gavrilo Princip getötet hätte? Sie kennen den Namen nicht? Er ist vielleicht der mächtigste Mann des 20. Jahrhunderts gewesen.

Princip war der Attentäter von Sarajevo 1914: Er tötete Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie Chotek, läutete damit das Ende von vier Monarchien ein, löste den Ersten Weltkrieg aus und machte in der Folge Kommunismus und Nationalsozialismus möglich – und damit auch den 2. Weltkrieg…

Unser ehrvergessenes Zeitalter ohne Ziele und ohne Visionen

Videos und Fotos aus Aleppo zeigen die Dimension des Grauens. Foto: Szekely/TheaterDo
Videos und Fotos aus Aleppo zeigen die Dimension des Grauens. Foto: Szekely/TheaterDo

Zurück im Jahr 2015: Wer wird der mächtigste Mensch des 21. Jahrhunderts? Wer ist bereit, die Welt zu ändern?

Was wären und was sind wir bereit, gegen Massenmord zu tun? Große Fragen, kaum Antworten und Reaktionen.

Der erhoffte Aufschrei aus dem Publikum bleibt aus – 1915 wie 2015. Die Zuschauer bleiben Zuschauer.

Die Aktionskünstler beklagen „eine seltsame moralische Sonnenfinsternis“: Die Jahre 1989 bis 2032 würden daher als das „ehrvergessene Zeitalter“ ohne Ziele und ohne Visionen in die Geschichte eingehen.

Abschied von den großen Menschnrechtsbewegungen

„Die letzte große Menschenrechtsbewegung verabschiedete sich nach dem Fall der Mauer in einen wohlverdienten Ruhestand. Seither zeigen die jüngeren Jahrgänge nicht das geringste Anzeichen, für den Schutz der Menschenrechte einzutreten“, hatte Ruch bereits 2014 bilanziert.

Sebastian Kuschmann bestückt eine Fassbombe, wie sie in Aleppo zum Einsatz kommt. Foto: Szekely/TheaterDo
Sebastian Kuschmann bestückt eine Fassbombe, wie sie in Aleppo zum Einsatz kommt. Foto: Szekely/TheaterDo

„Wo bleiben die Taten, auf die Sie stolz sein können“ fragen die Zeitreisenden. Die Massaker in Ruanda, in Bosnien und Syrien.

„Ihr seht das alles und tut nichts.“ Das schmerzt, wie auch die eingespielten Bilder und Filme aus Syrien wie auch der Bau der Fassbombe auf der Bühne.

Aleppo als neuer epischer Zivilisationsbruch 

Ist die Maxime „Nie wieder Auschwitz“ im Jahr 2015 nicht mehr als eine hohle Phrase? Es würden weitere Holocausts kommen. Zumindest dann, wenn wir uns nicht ab sofort für Menschenrechte einsetzen.

Aleppo ist für das ZPS die neue Kategorie des Schreckens, menschlichen Leids und der politischen Ignoranz der Machthaber und der Menschen.

Es ist ein neuer epischer Zivilisationsbruch gleich zu Beginn des neuen Jahrhunderts. Doch der Aufschrei der Empörung in Europa und in Deutschland bleibt aus.

Schlag ins Gesicht der ehrenamtlichen Flüchtlings-Helfer

Landlust statt Revolution - Christoph Jöde ist geschockt über 2015. Foto: Nick Jaussi/TheaterDo
Landliebe statt Revolution – Christoph Jöde ist geschockt über 2015. Foto: Nick Jaussi/ TheaterDo

„Wir lassen uns von den Medien und der Politik einlullen, interessierten uns mehr für komatöse Rennfahrer und WM-Titel als unsere Mitmenschen.“

Wer sich aber moralisch entrüsten wollte, weil er sich doch gerade in den vergangenen Wochen als ehrenamtlicher Helfer die Nächte am Hauptbahnhof und im Dietrich-Keuning-Haus um die Ohren geschlagen hat, kassierte einen besonders heftigen Tiefschlag.

Denn die Philosophen warfen den Zuschauern nicht nur sprichwörtlich gespendete Kleidung entgegen: „Es reicht nicht, Bananen, Lumpen und alte Schuhe an Flüchtlinge zu verteilen.“

Rückt die Humanität wieder in den Mittelpunkt der Politik

„Stellt das Streben nach Humanität in den Mittelpunkt eurer Politik“, gaben sie dem Publikum zum Abschluss mit auf den Weg. Wir haben es in der Hand.

So schmerzhaft wie sehenswert ist die Inszenierung. Die schauspielerische Leistung ist hervorragend. Interessant allerdings, dass unter den Zeitreisenden nur Männer waren…

Die Zuschauerinnen und Zuschauer schienen trotz des Unwohlseins dankbar und gaben lang anhaltenden Applaus.

Wer mitreisen und mitmischen will: „2099“ geht weiter – zu sehen im Schauspiel Dortmund.

Termine:
DO, 01. OKTOBER 2015
SO, 18. OKTOBER 2015
SO, 25. OKTOBER 2015
MI, 28. OKTOBER 2015
SA, 07. NOVEMBER 2015
FR, 13. NOVEMBER 2015
FR, 08. JANUAR 2016
MI, 13. JANUAR 2016

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