Zwei Jahre, nachdem Ferdinand Lassalle die erste gesamtdeutsche Arbeiterpartei (ADAV – ein Vorgänger der SPD) aus der Taufe gehoben hatte, schlossen sich am 26. Dezember 1865 in Leipzig Werktätige der Tabakindustrie zum Allgemeinen Deutschen Zigarrenarbeiterverein zusammen. Es war die erste zentral organisierte Gewerkschaft des Landes. Heute ist jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland in einer Gewerkschaft organisiert. Grund genug, sich bei den Dortmunder Ur-Ur-Ur-Enkeln der Gründer umzuhören.
Vorläufer-Organisation wurde vor 165 Jahren in Dortmund gegründet
Die Zigarrenarbeiter hatten sich auch auf lokaler Ebene in Dortmund organisiert – bereits 15 Jahre vor dem nationalen Zusammenschluss 1865. Ihr Bündnis gibt es noch heute: Als Teil der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten oder kurz NGG.
Ohne lokale und regionale Aktivitäten der Bäckergesellen, Fleischer, Hoteldiener, Dienstmädchen, Zigarrenarbeiter oder Brauer – in Dortmund bereits vor 165 Jahren – hätte es keine Gründung der NGG gegeben.
Gewerkschaftsgeschichte ist immer ein Kampf um gesellschaftlichen und politischen Einfluss der Arbeitnehmer, um mehr Mitbestimmung, höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen.
Solidarität und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft einen seit anderthalb Jahrhunderten die Menschen beim Versuch eines gemeinsamen aufrechten Ganges. Prägend für Dortmund war, neben Kohle und Stahl, immer auch das Bier und die Brauwirtschaft.
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Deutschland verlieren Mitglieder
In den vergangenen Jahrzehnten haben Gewerkschaften – wie viele große Organisationen und Parteien – viele Mitglieder verloren. Klare Strukturen gehen in einer immer stärker globalisierten Wirtschaft verloren, immer mehr Arbeitgeber treten aus ihren Verbänden aus.
Den Gewerkschaften gehen immer häufiger die Verhandlungspartner verloren. Ist die Zeit der Gewerkschaften daher auch vorbei?
Von NGG-Gewerkschaftssekretär Manfred Sträter und der DGB-Vorsitzenden Jutta Reiter gibt es dazu ein klares Nein. Immerhin gibt es allein in Dortmund gut 75.000 Gewerkschaftsmitglieder!
ArbeitnehmervertreterInnen richten sich neu aus und „kämpfen um jede Bude“
„Gewerkschaften haben heute noch ganz viel in Unternehmen zu sortieren“, betont Jutta Reiter. „Sie stellen sich neu auf und werben neue Mitglieder. Bundesweit steigen die Zahlen der Gewerkschaftsmitglieder an.“
Nur weil ein Unternehmen aus der Tarifbindung ausschert oder gar aus dem Arbeitgeber-Verband austritt, ziehen sich Gewerkschaften auch nicht zurück.
„Wir zwingen sie in Verhandlungen. Sie können das einfach und organisiert in den Arbeitgeberverbänden haben oder es gibt eben Häuserkämpfe.“
Dies sei zwar für beide Seiten nicht schön. „Aber wenn Arbeitgeber austreten, kämpfen wir eben um jede einzelne Bude. Das ist nicht sehr schön, machen wir aber, wenn es notwendig ist“, gibt sich Reiter betont kämpferisch.
Engagement gegen TTIP spricht für die Ausrichtung auf neue Herausforderungen
Die Gewerkschaften würden umdenken und sich den Fragen in einer globalisierten Gesellschaft stärker stellen. „Die Beteiligung der Gewerkschaft an den Protesten um das Freihandelsabkommen TTIP zeigt, dass Gewerkschaften verstanden haben, dass sie gemeinsam Antworten finden müssen.“
Außerdem gewinnen die Gewerkschaften bundesweit wieder neue Mitglieder. „Das Problem ist, dass wir in den altindustriellen Gewerkschaften viele Rentner und eine sehr hohe Sterbequote haben“, erklärt Reiter. „Die neuen Mitglieder arbeiten vor allem im Dienstleistungssektor.“
Viele der alten Gewerkschaftsmitglieder können sich noch gut an die Kampagnen, Auseinandersetzungen und Streiks erinnern: Das Erkämpfen der 40-Stunden-Woche nach dem Krieg, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, „Samstags gehört Vati mir!“, die 35-Stunden im Metall-Bereich und bei Druck und Papier.
Es gab keine Geschenke: Alle Erfolge wurden erkämpft
„Die Erfolge sind nicht vom Himmel gefallen, sondern wurden erkämpft“, macht Manfred Sträter deutlich.
Wobei seine Gewerkschaft, die NGG, in puncto Arbeitzeit teilweise einen anderen Weg eingeschlagen hat: Hier war nicht die Erreichung der 35-Stunden-Woche zentrales Ziel. Ihnen ging es darum, zwar die Wochenarbeitszeit zu verkürzen, aber nicht in Form von Minuten und Stunden.
„Da machen 12 Minuten täglich wenig. Wir machen das durch ganze freie Tage und blockfreie Zeiten, die nicht durch Rationalisierung zu kompensieren waren, sondern nur durch Neueinstellungen“, erinnert Sträter.
Aber auch Vorruhestandsregelungen und das Ausscheiden mit 58 war vor allem bei den Brauereischließungen ein wichtiges Thema.
Zusammenlegung von DAB und Brinkhoffs als Erfolgsgeschichte der NGG
Dass Gewerkschaften zu innovativen Schritten bereit sind und einen langen Atem zeigen, wurde bei der Brinkhoffs-Brauerei in Lütgendortmund deutlich. Statt einer Schließung kam es hier im Jahr 2005 erstmals zu einer Zusammenlegung mit der DAB in der Nordstadt.
„Da hatten wir auch einen Personalüberhang, aber keine einzige betriebsbedingte Kündigung“, betont Sträter nicht ohne Stolz. Die NGG machte sich erfolgreich für ein Verrentungsprogramm in beiden Brauereien stark.
Bei Kronen hatte es damals nicht geklappt. Die jungen Brauer wurden arbeitslos, die alten blieben. Doch jetzt war der Fall anders gelagert. Möglich war das auch, weil die Wochenarbeitszeit im Betrieb von 37 auf 32 Stunden abgesenkt wurde.
„Das war ein erheblicher Schritt. 55 Arbeitsplätze haben wir dadurch gerettet. Nahezu alle konnten in ihrem erlernten Beruf weitermachen, weil wir auch die Flaschensortierung zur DAB geholt haben.“
Erfolgreiche Veränderungen brauchen mitunter einen langen Atem
Doch damit war das Thema nicht beendet: Zehn Jahre später – also erst in diesem Jahr – wurde die 37-Stunden-Woche wieder für alle Beschäftigten eingeführt.
Die letzte Dortmunder Großbrauerei gehört zu Radeberger und ist einer der hochmodernen Standorte der Gruppe. Zehn Jahre lang wurde niemand betriebsbedingt entlassen.
Im Gegenteil: Beschäftigte werden neu eingestellt, Azubis übernommen. Leiharbeit ist durch ein Vier-Schicht-System fast kein Thema. „Das ist eine Erfolgsgeschichte. Aus dem hässlichen Entlein ist ein Schwan geworden“, so Sträter.
Der Standort der DAB sei technologisch aufgerüstet und habe „die größte Rampe“ des Konzerns. Er ist einer der Top 3-Standorte und von der Nordstadt aus wird auch das Export-Geschäft bedient. „Das hätte vor zehn Jahren kaum einer geglaubt!“
Entschlossenes Auftreten: 16 Wochen Streik für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
„Es ist interessant, wie lang der Atem ist, den wir da mitunter haben müssen“, ergänzt Jutta Reiter. Die Frage der 40-Stunden-Woche ist 1955 zum ersten Mal aufgekommen. 1957 gab es dann real eine 45-Stunden-Woche. 1959 wurden die 40 Stunden dann tariflich verankert. Gesetzlich gibt es sie bis heute noch nicht.
Bis zu den 1980er Jahren gab es sehr viele Errungenschaften für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Doch es gab sie nicht einfach so: Mit harten Streiks und Auseinandersetzungen – ja selbst mit Aussperrungen – seien diese einher gegangen.
Für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde 1956 in Schleswig-Holstein 16 Wochen lang gestreikt – 32.000 IG Metall-Mitglieder hatten sich beteiligt. Erst Jahrzehnte später – unter der schwarz-gelben Regierung Kohls – wurden erstmals Errungenschaften in Frage gestellt.
Neoliberale Wende unter CDU-Kanzler Helmut Kohl brachte viele Verschlechterungen
„Kanzler Kohl wollte sechs Karenztage zur Finanzierung der Pflegeversicherung einführen“, erinnert Sträter. Arbeitnehmer hätten dann für die ersten sechs Krankheitstage kein Geld bekommen. Dies wurde abgewehrt.
Doch auf anderen Feldern setzten sich die Neoliberalen durch, weil die Gewerkschaften die Vorschläge zunächst nur zur Kenntnis genommen hätten. „Wir mussten erst auf Abwehr umstellen. und Dinge verteidigen, wo wir es nicht geglaubt hatten“, so Reiter.
Doch Schwarz-Gelb setzte trotzdem vieles durch: Dazu gehörte die Einführung der befristeten Anstellung ohne sachlichen Grund unter Arbeits- und Sozialminister Blüm. „Da knacken wir heute noch dran, denn das war und ist strukturgebend für den gesamten Arbeitsmarkt“, so Reiter.
Von Leiharbeit bis Hartz IV – Rot-Grün brachte neue „Sargnägel“ für Arbeitnehmerrechte
Sträter erinnert an den „Katalog der Beschäftigungshemmnisse“: So wurde der Kündigungsschutz ausgehöhlt. Unter Rot-Grün kamen weitere „Sauereien“ hinzu: Vor allem die Forcierung der Leiharbeit unter SPD-Wirtschaftsminister Clement.
„Wir haben Einschnitte beim Arbeitnehmerschutz erlitten, gegen die wir uns bis heute zur Wehr setzen“, zieht Reiter eine nüchterne Bilanz. Minijobs, Leiharbeit und Werkverträge, aber auch die Zerschlagung der Arbeitslosenhilfe.
„Hartz IV war der nächste Sargnagel“, ärgert sich Sträter. „Die neoliberale Politik ist von Sozialdemokraten europaweit vorangetrieben worden“, erinnert der NGG-Sekretär. „Bestimmte Dinge hätte es mit der CDU so nicht gegeben. Die hat erst die SPD möglich gemacht“, stellt Reiter fest.
Forderung nach Mindestlohn als gewerkschaftliche Bankrotterklärung
Daher mussten die Gewerkschaften umdenken: 2004 wurde erstmals der gesetzliche Mindestlohn gefordert.
„Das war eine klare und eindeutige Bankrotterklärung der Gewerkschaften, aber der richtige Schritt, um für alle Beschäftigten gestalten zu können“, betont der NGG-Sekretär. Denn die Forderung machte deutlich, dass mit Tarifverträgen allein das System nicht zu ändern ist.
Auch beim Thema EU kamen die Gewerkschaften zunächst nicht in die Gänge: „Auf dem Auge für Europa waren die Gewerkschaften blind. Sie haben es als Randerscheinung des politischen Lebens gesehen“, sagt Reiter durchaus selbstkritisch.
Erst mit der Dienstleistungsrichtlinie sei Europa auf die gewerkschaftliche Tagesordnung gekommen. Diese sah vor, dass das Herkunftsland die Arbeitsbedingungen bestimmt. Die Gewerkschaften wachten auf. Ein gesetzlicher Mindestlohn und Entsenderichtlinien schienen die einzigen Lösungen.
„Wir können uns wahnsinnig über den Mindestlohn freuen. Aber wir können uns nicht ausruhen“, so Reiter. Es gehe nun darum, den Mindestlohn „armutssicher und Hartz IV-fest zu machen“. Außerdem betonen die Gewerkschaften, dass sie Tarifverträge nicht überflüssig machten. Der Mindestlohn markiere nur die untere Haltelinie.
Mindestlohn schafft neue Herausforderungen für Arbeitnehmer
„Seit 1.1.2015 kommen tarifgebundene Arbeitgeber auf die Idee, dass sie nur noch den Mindestlohn zahlen, obwohl der Branchentariflohn darüber liegt“, berichtet Sträter. Und die Arbeitgeber würden die Flüchtlinge instrumentalisieren, um den Mindestlohn wieder aushöhlen zu können.
Diskussionen, die es früher so nicht gab. Wurden Leistungen erstritten oder standen sie im Gesetz, war an dieser Front meist 20 Jahre Ruhe. „Jetzt kommen bestimmte Arbeitgeber-Forderungen alle paar Monate oder Jahre wieder auf die Tagesordnung.“
Immer wieder werde Erreichtes in Frage gestellt. Daher sei es um so wichtiger, dass die Gewerkschaften einen hohen Organisationsgrad erreichten und ihre Streikfähigkeit unter Beweis stellen könnten.
Nötig ist dies auch zur Abwehr von Forderungen, die seit der Weimarer Republik kein Thema mehr waren. So versuchten Arbeitgeber derzeit, die Höchstarbeitszeit von zehn Stunden am Tag zu kippen. „Sie wollen 12-Stunden-Tage wieder im Gesetz verankert sehen oder die Begrenzung am liebsten ganz abschaffen“, verdeutlicht Sträter.
Das Thema kommt durch die neue Aufzeichnungspflicht bei den Mindestlöhnen auf: „Jetzt merken die Arbeitgeber, wie lange ihre Leute wirklich arbeiten“, erklärt Sträter. Oft sind es mehr als zehn Stunden täglich.
„Jetzt spüren sie die Faust der Bezirksregierung im Nacken, die das überwachen soll. Sie fordern daher die Abschaffung der Obergrenze.” Apropos Arbeitsschutz: Auch er wurde unter Clement zu Ungunsten der Beschäftigten geschliffen…
Digitalisierung und neue Arbeits- und Solidarmodelle als Zukunftsthemen
„Erkämpftes ist immer wieder gefährdet. Die Auseinandersetzung bei Amazon zeigt, wie man ein US-Unternehmen aus einer diktatorischen in eine Verhandlungsposition zwingen muss“, so Sträter.
Solche Auseinandersetzungen fänden hundertfach statt – auch in ehemals bundeseigenen Unternehmen. „Auch in Bereichen, die wir längst geklärt haben.“
Die Digitalisierung stellt neue Herausforderungen, denen sich die Gewerkschaften nun aktiv stellen. Denn die Individualisierung der Arbeit hat zu neuen Benachteiligungen und Missständen geführt, deren Bekämpfung nur solidarisch funktionieren kann: der Ausbau und Aufbau von Mitbestimmungsstrukturen über Ländergrenzen hinweg, neue Formen der Arbeit und Beschäftigung, soziale Sicherungen für Freiberufler, Demographie-Tarifverträge…
„Es gibt nicht automatisch eine Entwicklung zum Guten.” Wenn es darum gehe, die Richtung zu beeinflussen, brauche es die gleichen Mechanismen wie nach dem Krieg: „Wir einigen uns auf einen gemeinsamen Nenner und treten dafür ein. Menschen machen sich dafür stark. Das ist es“, so Sträter.
„Man verleiht einer Sache ein Gewicht, in dem man sich gemeinsam dafür einsetzt. Dann sind wir in der Lage, auch Scheißbedingungen zu verändern!“
HINWEIS:
Anlässlich des 150. Jahrestages der Gründung der ersten deutschlandweiten Gewerkschaft – dem Allgemeinen Deutschen Zigarrenarbeiterverein – wird Nordstadtbogger.de in den nächsten Wochen aus der 165-jährigen Geschichte der Dortmunder Sektion berichten, aus der später die NGG entstanden ist.