Gastbeitrag von Sebastian Kurtenbach: Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien – warum eigentlich in die Nordstadt?

Eine weitere Roma-Familie kommt in Dortmund an.
Ankunft in der Nordstadt: Eine weitere rumänische Familie kommt an. Foto: Alex Völkel

Ein Gastbetrag von Sebastian Kurtenbach M.A.
Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung der Ruhr-Universität Bochum  (ZEFIR)

Podiumsgespräch im Ratsaal zum Thema: Neuzugewanderte Roma aus Bulgarien und Rumänien. Sebastian Kurtenbach, Zentrum interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung e. V.
Sebastian Kurtenbach (rechts) vom Zentrum interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung e. V.

Wer mit offenen Augen durch die Nordstadt geht, regelmäßig Zeitung oder auch Nordstadtblogger.de  liest weiß, dass Rumänen und Bulgaren seit einigen Jahren verstärkt in die Nordstadt zuwandern. Teile dieser Gruppe sind mittellos, gehören unterschiedlichen ethnischen Minderheiten an und sind in erster Linie zur Arbeitssuche in Dortmund.

Doch Dortmund ist groß und die Nordstadt mit 14,4 Quadratkilometer umfasst nur rund fünf Prozent der gesamten Fläche der Stadt. Zudem wohnen mit etwa 55.000 Menschen dort nur circa zehn Prozent der Dortmunder Bevölkerung von denen etwa zwei Drittel einen Migrationshintergrund haben.

Doch nicht alle Migranten leben nördlich des Bahnhofs und sie sind nicht automatisch arm, wenn sie am Nordmarkt, Hafen oder Borsigplatz wohnen. Auch in anderen Stadtteilen sind kleinräumige Konzentrationen von Armut und Bevölkerung mit Migrationshintergrund zu finden.

Doch wieso zieht es mittellose Rumänen und Bulgaren dann verstärkt in die Nordstadt? Was macht die Nordstadt zu einem Ankunftsgebiet? Darauf möchte ich versuchen im Rahmen dieses Gastbeitrags erste Antworten zu finden.

Forscher fanden in den 1950er Jahren in der Nordstadt ein solidarisches Arbeiterviertel vor

Roma in der Mallinckrodtstraße Dortmund
In der Mallinckrodtstraße sind viele Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänien zu sehen.

Um die heutige Situation zu verstehen, sollten wir uns die Geschichte der Nordstadt vergegenwärtigen, denn wie der Soziologie Norbert Elias sagt, ist die Gegenwart einzig vor dem Hintergrund der Geschichte zu verstehen.

In der Studie „Daseinsformen der Großstadt“ untersuchte in den 1950er Jahren ein Forscherteam der Sozialforschungsstelle Münster (heute gehört dieses Institut zur TU Dortmund) unter Leitung von Rainer Mackensen die sozialen Verhältnisse in Dortmund. Besonderes Augenmerk legten sie auf die Nordstadt, die sich bereits zur damaligen Zeit vom Rest der Stadt unterscheiden ließ.

Dort wohnten in erster Line Arbeiterfamilien, die in den nahegelegenen Industriebetrieben ihr Auskommen fanden. Der Normallfall waren eng geknüpfte Kontakte, die auf der gemeinsamen Arbeitserfahrung im industriellen Großbetrieb sowie auf verwandtschaftlichen Beziehungen fußten.

Hinzu kamen Solidarbeziehungen vor dem Hintergrund einer nachbarschaftlichen Kultur des Borgens. Es herrschte Mangel und man half sich mit Kleinigkeiten, so gut es ging, gegenseitig aus. Mit der Anwerbung von Gastarbeitergruppen wurden erstmals Migranten in nennenswerter Zahl in der Nordstadt sesshaft.

Milieu von relativer Armut und Diversität  – bereits vor der Ankunft der sog. Armutszuwanderer

Luftbild Nordstadt
Die Nordstadt mit Schützenstraße, Pauluskirche, Hauptbahnhof und Cityring

Heute finden wir ein anderes Bild hinter dem Bahnhof vor. Auch heute ist die Bevölkerung im Durchschnitt immer noch ärmer als im Rest der Stadt.

Doch die unterschiedlichen Zuwanderungswellen von Gastarbeitern, der Nachzug ihrer Familien und die Zuwanderung im Zuge des Endes des Kalten Krieges sowie der fortschreitenden Europäischen Integration haben die Bevölkerung auch ethnisch diversifiziert. In der Fachdebatte wird dies als super-diveristy bezeichnet.

Wie hilft uns nun dieser Blick in den geschichtlichen Rückspiegel, um die heutige Situation zu verstehen? Er zeigt, dass die Nordstadt ein Milieu erzeugt hat, das von relativer Armut und Diversität bereits vor der Ankunft der ersten sog. Armutszuwanderer aus den EU-2-Staaten (Rumänen und Bulgarien) geprägt war. Diese historische Prägung ist eines von fünf Merkmalen von Ankunftsgebieten.

Länger ansässige Migranten leisten Neunankömmlingen Hilfe und Orientierung

Ein weiteres Merkmal ist eine bereits länger ansässige Migrantenpopulation, die zum Teil Eigentum erworben hat und eventuell eigene Geschäfte betreibt. Zahlreiche Angehörige dieser „Sockelbevölkerung“ haben noch Kontakte in ihre ehemalige Heimat und können Neuankömmlingen beim Ankommen helfen. Dazu gehören lebenspraktische Dinge, wie ein Schlafplatz, aber auch die Vermittlung von spezifischem Know-how. Wo muss ich mich anmelden, wo ist das nächste Gotteshaus oder warum haben hier sonntags die Geschäfte zu? Bei all diesen Dingen können länger Ansässige Hilfe und Orientierung geben.

Dabei sind dieselben ethnischen Zugehörigkeiten von Neuankömmlingen und Alteingesessenen nicht immer entscheidend, sondern eher die gemeinsame Sprache. Wir können im Moment aber auch beobachten, dass Teile der Sockelbevölkerung nicht solidarisch handeln, sondern Profit aus der Not von Neuzuwanderern schlagen. Hinzu kommen aktive Abgrenzungsbemühungen, aber auch zwischenmenschliche Hilfe.

Die Nordstadt bietet Neuzuwanderern und Flüchtlingen viele Möglichkeiten

Als drittes Merkmal eines Ankunftsgebietes sind die Opportunitäten, also Möglichkeitsstrukturen, im Stadtteil zu nennen. Dazu gehören Geschäfte, die migrationssensible Dienstleistungen anbieten.

Roma in der Dortmunder Nordstadt, Mallinckrodtstraße
Die Infrastruktur der Nordstadt bietet den Neuankömmlingen viele Möglichkeiten.

Ein Beispiel dafür bilden Angebote zum internationalen Geldtransfer, wozu auch keine Konten von Nöten sind. Wer in Dortmund beispielsweise alle Westen Union Filialen oder vergleichbare Anbieter kartiert, wird eine verhältnismäßige Dichte nördlich des Bahnhofs entdecken.

Doch auch weniger sichtbare Opportunitäten, wie die Möglichkeit, in einem Kiosk an Informationen zu kommen, um einen Tagesjob zu bekommen, führen dazu, dass Neuzuwanderer gehäuft in Ankunftsgebieten ansässig sind. Anschaulich beschrieben hat dies der kanadische Journalist Doug Saunders in seinem Bestseller „Arrival City“.

Ein weiterer Aspekt von Ankunftsgebieten, wie die Nordstadt eines ist, bildet die Möglichkeit, auch ohne (deutsche) Sprachkenntnisse oder formal nachweisbare Berufsausbildung Jobs zu finden. Zweifelsohne sind diese Jobs in der Regel weder gut bezahlt, noch mit deutschem Arbeitsrecht vereinbar. Dennoch sind sie mehr als viele in ihrem Herkunftsort bekommen können.

Während meiner Besuche im Roma-Ghetto Stolipinovo im bulgarischen Plovidv haben meine Gesprächspartner immer wieder die herrschende Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck gebracht, vor Ort eine Arbeit zu finden, die es ermöglicht ihre Familie zu ernähren oder Schulden zu begleichen. Wenige Euro am Tag für eine schlechte und zum Teil sicher gefährliche Arbeit klingt für viele eher wie eine Verheißung als eine Bedrohung.

Konstant hohe Fluktuation ist ein wichtiges Merkmal von Ankunftsgebieten

Die Beratungsstelle "Willkommen Europa" in der Bornstraße 64 ist nun offiziell geöffnet.
Die Beratungsstelle „Willkommen Europa“ in der Bornstraße 64 ist eine der Anlaufstellen.

Als fünftes Merkmal von Ankunftsgebieten ist die konstant hohe Fluktuation zu nennen. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen, was zum einen den Nachteil mit sich bringt, dass nachbarschaftliche Solidarbeziehungen gar nicht erst entstehen und zum anderen die Regeln des Zusammenlebens vor Ort immer neu definiert werden müssen.

Doch ist es auch ein Zeichen dafür, dass die Orte eine bedeutende Funktion für die Gesamtstadt innehaben.

Wenn es gut läuft, schaffen Neuzuwanderer oder spätestens ihre Kinder einen sozialen Aufstieg, z.B. in Folge erfolgreicher Bildungsinvestitionen. Dadurch entsteht „soziale Distanz“ zum Umfeld, welche in „räumliche Distanz“ umgesetzt wird – die Bildungsaufsteiger ziehen in besser angesehene Stadtteile um. Fortgezogene Aufsteiger werden dann mit Neuankömmlingen, die noch am Anfang ihres Weges stehen, „ersetzt“.

Hinzu kommt die Fluktuation durch transnationale Karrieren, also solche Zuwanderer, die nur für kurze Zeitfenster oder phasenweise ansässig sind, um bei besseren Aussichten auf Arbeit an einem anderen Ort weiterzuziehen.

Erste rumänische Restaurants und bulgarische Geschäfte eröffnet

Dass die Dortmunder Nordstadt die Funktion eines Ankunftsgebietes erfüllt, ist am Beispiel der Neuzuwanderer aus Rumänien und Bulgarien gut zu belegen. Es entstehen sogar bereits die ersten Geschäfte für die Zuwanderergruppe, wie ein rumänisches Restaurant oder ein bulgarischer Supermarkt. Aber auch Ausbeutung, schlechte Wohnverhältnisse und Ausgrenzung sind zu erkennen.

Begründet wird dies, zum Teil latent, zum Teil auch offen, mit dem Verweis auf die Zugehörigkeit einiger Zuwanderer zur  (sehr heterogenen!) Gruppe der Roma, also einer Gruppe, die auch in den Herkunftsländern von Diskriminierung betroffen ist.

Das gesamte Ruhrgebiet braucht die Nordstadt mit ihrer Funktion für Neuankömmlinge

Roma in der Dortmunder Nordstadt, Mallinckrodtstraße
Das Café Plovdiv – ein augenfälliges Zeichen der Zuwanderung aus Osteuropa.

Doch was bedeutet es nun, dass die Dortmunder Nordstadt ein Ankunftsgebiet ist? Es gibt Stimmen die sagen, die Nordstadt brauche Stabilisierung und Aufwertung, um eine „gesunde soziale Mischung“ herzustellen. (Was das sein soll, konnte bislang noch niemand so recht beantworten.)

Allerdings ist Skepsis gegenüber solchen Forderungen angebracht, denn Dortmund und das gesamte Ruhrgebiet braucht die Nordstadt mit ihrer Funktion für Neuankömmlinge.

Denn in Stadtteilen wie der Nordstadt zeigt sich, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, also auch Einwanderungsstadtteile braucht. Bei aller Anerkennung gehört es auch dazu zu sagen, dass das Zusammenleben nicht immer konfliktfrei ist und auch anstrengend sein kann.

Auch ist es in Teilen ein Nebeneinanderherleben, aber alles in allem funktioniert es. Dazu trägt auch die gut ausgebaute soziale Infrastruktur im Stadtteil bei, die begleitet wird von einer durchaus kritischen Öffentlichkeit.

Die Nordstadt braucht keine eine künstliche Verhinderung ihrer Ankunftsfunktion, was in einem stagnierenden Wohnungsmarkt ohnehin nicht funktioniert. Sie braucht viel mehr eine Akzeptanz als Ankunftsgebiet.

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Reaktionen

  1. Martin Redies

    Sehr schöner Beitrag, der sich wohltuend der Realität nähert. Was für die Nordstadt gilt, könnte exakt so auch für Duisburg-Hochfeld stehen, wo wir unser Büro haben.

  2. Ende

    Spannend zu lesen.
    Wichtig dabei: Die meisten Roma aus Stolopinovo gehören zu den türkischstämmigen „Xoraxane Roma“, dürften also keine Verständigungsschwierigkeiten mit der türkischen Sockelbevölkerung in der Nordstadt oder in DUI-Hochfeld haben

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